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PAPST FRANZISKUS

GENERALAUDIENZ

Damasushof
Mittwoch, 9. September 2020

[Multimedia]


 

Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!

Die Krise, die wir aufgrund der Pandemie erleben, betrifft alle. Wir können besser daraus hervorgehen, wenn wir alle gemeinsam nach dem Gemeinwohl streben; andernfalls werden wir schlechter daraus hervorgehen. Leider erleben wir, dass Eigennutz zutage tritt. Es gibt zum Beispiel Menschen, die sich – wie im Fall der Impfstoffe – mögliche Lösungen zu eigen machen und sie den anderen dann verkaufen wollen. Andere nutzen die Situation aus, um Spaltungen zu fördern: um wirtschaftliche oder politische Vorteile zu erlangen, indem Konflikte erzeugt oder geschürt werden. Andere interessieren sich einfach nicht für das Leiden anderer, gehen vorüber und gehen ihre eigenen Wege (vgl. Lk 10,30-32). Sie huldigen gleichsam Pontius Pilatus; sie waschen sich die Hände. Die christliche Antwort auf die Pandemie und auf die daraus folgenden sozialen und wirtschaftlichen Krisen gründet auf der Liebe, vor allem auf der Liebe Gottes, die uns stets vorausgeht (vgl. 1 Joh 4,19). Er liebt uns zuerst, er geht uns stets voraus in der Liebe und in den Lösungen. Er liebt uns bedingungslos, und wenn wir diese göttliche Liebe annehmen, dann können wir auf ähnliche Weise antworten. Ich liebe nicht nur den, der mich liebt – meine Familie, meine Freunde, meine Gruppe –, sondern auch jene, die mich nicht lieben. Ich liebe auch jene, die mich nicht kennen; ich liebe auch jene, die Fremde sind, und auch jene, die mir Leid zufügen oder die ich als Feinde betrachte (vgl. Mt 5,44). Das ist die christliche Weisheit, das ist die Haltung Jesu. Und der höchste Punkt der Heiligkeit, um es so auszudrücken, ist die Feindesliebe, und sie ist nicht einfach.

Gewiss, alle zu lieben, einschließlich der Feinde, ist schwierig – ich würde sagen, es ist eine Kunst! Jedoch eine Kunst, die man lernen und in der man sich verbessern kann. Die wahre Liebe, die uns fruchtbar und frei macht, ist immer expansiv und inklusiv. Diese Liebe ist fürsorglich, heilt und tut gut. Oft ist eine Liebkosung besser als viele Argumente, eine verzeihende Liebkosung statt vieler Argumente zur eigenen Verteidigung. Die inklusive Liebe ist es, die heilt.

Die Liebe beschränkt sich also nicht auf die Beziehungen zwischen zwei oder drei Personen oder auf die Freunde oder die Familie. Sie geht darüber hinaus. Sie schließt die bürgerlichen und politischen Beziehungen ein (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche [KKK], 1907-1912), einschließlich der Beziehung zur Natur (Enzyklika Laudato si [Ls], 231). Wir wissen, dass die Liebe die Familien und die Freundschaften befruchtet; aber es ist gut, daran zu denken, dass sie auch die gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen befruchtet und uns gestattet, eine »Zivilisation der Liebe« aufzubauen, wie der heilige Paul VI.[1] und in seiner Nachfolge der heilige Johannes Paul II. gerne sagte. Ohne diese Inspiration herrscht die Kultur des Egoismus, der Gleichgültigkeit, die Wegwerfkultur: also wegwerfen, was ich nicht gernhabe, was ich nicht lieben kann, oder den, der mir in der Gesellschaft nutzlos erscheint. Als ich heute hereinkam, hat ein Paar zu mir gesagt: »Beten Sie für uns; wir haben einen behinderten Sohn.« Ich habe gefragt: »Wie alt ist er?« – »Schon ziemlich alt.« – »Und was tut ihr?« – »Wir begleiten ihn, wir helfen ihm.« Ein ganzes Elternleben für diesen behinderten Sohn. Das ist Liebe. Und die Feinde, die politischen Gegner scheinen unserer Meinung nach politisch und sozial unfähig zu sein; das scheint jedoch nur so. Nur Gott weiß, ob sie es sind oder nicht.

Wir müssen sie jedoch lieben, wir müssen miteinander sprechen, wir müssen diese Zivilisation der Liebe aufbauen, diese politische, gesellschaftliche Zivilisation der Einheit der gesamten Menschheit. Das alles ist das Gegenteil von Kriegen, Spaltungen, Neid, auch der Kriege in den Familien. Die inklusive Liebe ist sozial, ist familiär, ist politisch; die Liebe durchdringt alles! Das Coronavirus zeigt uns, dass das wahre Gut für jeden ein Gemeinwohl und nicht nur individuell ist, und dass umgekehrt das Gemeinwohl ein wahres Wohl für die Person ist (vgl. KKK 1905-1906). Wenn jemand nur nach dem eigenen Wohl strebt, ist er ein Egoist. Die Person ist dagegen mehr Person, wenn sie ihr eigenes Gut für alle öffnet, es teilt. Die Gesundheit ist nicht nur individuell, sondern auch ein öffentliches Gut. Eine gesunde Gesellschaft ist jene, die für die Gesundheit aller Sorge trägt. Einem Virus, das keine Barrieren, Grenzen oder kulturelle und politische Unterschiede kennt, muss mit einer Liebe ohne Barrieren, Grenzen oder Unterschiede begegnet werden.

Diese Liebe kann Sozialstrukturen hervorbringen, die uns ermutigen, zu teilen statt zu konkurrieren, die uns gestatten, die Schwächeren einzuschließen, statt sie auszugrenzen, und die uns helfen, das Beste und nicht das Schlechteste unserer menschlichen Natur zum Ausdruck zu bringen. Die wahre Liebe kennt die Wegwerfkultur nicht, sie weiß nicht, was das ist. Denn wenn wir Kreativität lieben und schaffen, wenn wir Vertrauen und Solidarität schaffen, dann entstehen daraus konkrete Initiativen für das Gemeinwohl.[2] Und das gilt sowohl auf der Ebene der kleinen und großen Gemeinschaften als auch auf internationaler Ebene. Was man in der Familie tut, was man im Stadtviertel tut, was man im Dorf tut, was man in der großen Stadt und international tut, ist dasselbe: Es ist derselbe Same, der wächst und Frucht bringt. Wenn du in der Familie, im Stadtviertel mit Neid, mit Kampf beginnst, dann wird am Ende »Krieg« herrschen. Wenn du dagegen mit der Liebe beginnst, mit dem Teilen der Liebe, der Vergebung, dann wird Liebe und Vergebung für alle herrschen.

Wenn dagegen die Lösungen für die Pandemie von Egoismus geprägt sind – sei es durch Personen, Unternehmen oder Nationen – dann können wir vielleicht aus dem Coronavirus herauskommen, aber gewiss nicht aus der menschlichen und gesellschaftlichen Krise, die das Virus deutlich gemacht und verschärft hat. Gebt also acht, dass ihr nicht auf Sand baut (vgl. Mt 7,21-27)! Um eine menschliche, inklusive, gerechte und friedliche Gesellschaft aufzubauen, müssen wir dies auf dem Felsen des Gemeinwohls tun.[3] Das Gemeinwohl ist ein Felsen. Und das ist unser aller Aufgabe, nicht nur die irgendwelcher Spezialisten. Der heilige Thomas von Aquin hat gesagt, dass die Förderung des Gemeinwohls eine Pflicht der Gerechtigkeit ist, die auf jeden Bürger zurückfällt. Jeder Bürger ist für das Gemeinwohl verantwortlich. Und für die Christen ist es auch eine Sendung. Der heilige Ignatius von Loyola lehrt, dass die Ausrichtung der täglichen Mühen auf das Gemeinwohl eine Art ist, die Ehre Gottes zu empfangen und zu verbreiten.

Leider genießt die Politik oft keinen guten Ruf, und wir wissen, warum. Das heißt nicht, dass die Politiker alle schlecht sind, nein, das will ich nicht sagen. Ich sage nur, dass die Politik oft keinen guten Ruf genießt. Man darf jedoch nicht vor dieser negativen Sichtweise kapitulieren, sondern muss reagieren, indem man durch Taten zeigt, dass eine gute Politik möglich, ja sogar geschuldet ist[4]: jene Politik, die den Menschen und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellt. Wenn ihr die Geschichte der Menschheit lest, dann begegnet ihr vielen heiligen Politikern, die diesen Weg gegangen sind. Es ist möglich in dem Maße, in dem jeder Bürger und insbesondere jener, der gesellschaftliche und politische Verpflichtungen und Aufgaben übernimmt, das eigene Handeln in den ethischen Prinzipen verankert und es mit sozialer und politischer Liebe beseelt. Die Christen, insbesondere die gläubigen Laien, sind aufgerufen, ein gutes Zeugnis davon abzulegen, und sie können es tun durch die Tugend der Nächstenliebe, indem sie die ihr innewohnende soziale Dimension pflegen.

Es ist also an der Zeit, unsere soziale Liebe zu mehren – ich möchte das unterstreichen: unsere soziale Liebe –, indem wir alle dazu beitragen, begonnen bei unserer Geringheit. Das Gemeinwohl verlangt die Beteiligung aller. Wenn jeder einen Beitrag leistet, und wenn keiner ausgeschlossen wird, dann können wir wieder gute Beziehungen schaffen, auf gemeinschaftlicher, nationaler, internationaler Ebene und auch in Harmonie mit der Umwelt (vgl. Ls, 236). So wird in unseren Gesten, auch in den einfachsten, etwas sichtbar werden von dem Abbild Gottes, das wir in uns tragen, denn Gott ist Dreifaltigkeit, Gott ist Liebe. Das ist die schönste Definition Gottes in der Bibel. Sie wird uns geschenkt vom Apostel Johannes, der Jesus sehr geliebt hat: Gott ist Liebe. Mit seiner Hilfe können wir die Welt heilen, indem wir alle gemeinsam für das Gemeinwohl arbeiten, nicht nur für das eigene Wohl, sondern für das Gemeinwohl, das Wohl aller.

 


APPELL

Heute feiern wir den Internationalen Tag zum Schutz von Bildungseinrichtungen vor bewaffneten Angriffen. Ich lade ein, für die Schüler zu beten, die aufgrund von Kriegen und Terror in so schwerwiegender Weise des Rechts auf Bildung beraubt werden. Ich rufe die Internationale Gemeinschaft auf, sich dafür einzusetzen, dass die Gebäude geachtet werden, die die jungen Schüler schützen sollten. Man darf nicht nachlassen in dem Bemühen, ihnen sichere Räume für die Bildung zu garantieren, vor allem in humanitären Notlagen.

 

* * *

Von Herzen grüße ich die Gläubigen deutscher Sprache. Die selige Jungfrau Maria, deren Geburtsfest wir gestern begangen haben, zeigt uns, dass der Herr Großes an denen tut, die demütig seinem Willen folgen. Sie helfe uns, aus diesem Bewusstsein zu leben, um die Liebe Gottes in der Welt zu verbreiten.

 


[1] Botschaft zur Feier des 10. Weltfriedenstages, 1. Januar 1977: AAS 68 (1976), 709.
[2] Vgl. hl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 38.
[3] Vgl. ebd., 10.
[4] Vgl..Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages, 1. Januar 2019 (8. Dezember 2018).

 



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