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PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"

 

Erinnerung und Dienst

Donnerstag, 30. April 2015

 

aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 20, 15. Mai 2015

 

Der Christ geht seinen Weg nicht allein: Er ist Teil eines Volkes, Teil einer jahrhundertealten Geschichte, und er ist aufgerufen, sich in den Dienst der Anderen zu stellen. »Erinnerung« und »Dienst« sind die Schlüsselwörter der Reflexion, die Papst Franziskus bei der Messe anstellte, die er am Donnerstag, 30. April, in Santa Marta feierte.

Die Geschichte – und folglich die Erinnerung, die man an sie hat – stelle, so sagte der Papst, gemeinsam mit dem Dienst die »beiden Wesenszüge der Identität des Christen« dar, über die uns »die heutige Liturgie« reflektieren lasse. Dieser Hinweis entstammt dem Abschnitt aus der Apostelgeschichte (13,13-25), in dem steht, dass Paulus, als er nach Antiochien kam, »wie es seine Gewohnheit war, am Sabbat in die Synagoge ging« und dort »dazu aufgefordert wurde, etwas zu sagen«. In der Tat sei das »eine Gewohnheit der Juden jener Zeit« gewesen, wenn ein Gast zu Besuch kam. Als er das Wort ergriff, habe Paulus »damit begonnen, Jesus Christus zu verkündigen«. Aber, so betonte der Papst, »er sagte nicht etwa: Ich verkündige Jesus Christus, den Heiland; er ist vom Himmel gekommen; Gott hat ihn gesandt; er hat uns alle erlöst und hat uns diese Offenbarung gebracht. Nein, nein, nein.« Um darzulegen, wer Jesus sei, beginne der Apostel, »die gesamte Geschichte des Volkes nachzuerzählen «. In der Schrift stehe dementsprechend: »Da stand Paulus auf, gab mit der Hand ein Zeichen und sagte: Hört! Der Gott dieses Volkes Israel hat unsere Väter erwählt…« Und Paulus erzähle ausgehend von Abraham »die ganze Geschichte nach«.

Diese Entscheidung sei nicht zufällig gefallen. Franziskus machte in seiner Predigt darauf aufmerksam, dass »Petrus in seinen Ansprachen nach Pfingsten« genau dasselbe getan habe, und ebenso auch »Stephanus vor dem Hohen Rat«. Sie hätten »also nicht einen geschichtslosen Jesus verkündet«, sondern »sie verkündeten Jesus als Teil der Geschichte des Volkes, eines Volkes, das Gott Jahrhunderte lang auf Wanderschaft geschickt habe, um diese Reife zu erlangen, als die Zeit erfüllt war, wie Paulus sagt«. Dank dieses Berichts verstehe man, dass »in dem Augenblick, in dem dieses Volk so weit ist, dass die Zeit erfüllt ist, der Erlöser kommt, und das Volk setzt seinen Weg fort, damit die Wiederkunft dieses Erlösers erfolgen wird«.

Das also, so betonte der Papst, sei ein Wesensmerkmal der christlichen Identität: »Ein Mann und eine Frau der Geschichte sein, zu verstehen, dass die Geschichte weder mit mir beginnt, noch mit mir endet.« Tatsächlich habe alles in jenem Augenblick begonnen, in dem der Herr in die Geschichte eingetreten sei. Zur Untermauerung des Gesagten erinnerte der Papst an den »wunderschönen« Psalm, der als Eröffnungsvers der Messfeier gebetet worden war: »Gott, als du deinem Volk voranzogst, als du die Wüste durchschrittest« – die Erinnerung daran, dass Gott mit seinem Volke wanderte –, »da bebte die Erde, da ergossen sich die Himmel.

Wundervoll.« Also »ist der Christ ein Mann und eine Frau der Geschichte, da er nicht sich selbst gehört, er ist Teil eines Volks, eines Volkes auf Wanderschaft«. Es gebe also keinen vollkommenen Christen, »einen spirituellen Mann, eine spirituelle Frau aus der Retorte«, sondern stets einen spirituellen Mann oder Frau, die Teil »eines Volkes sind, das auf eine lange Geschichte zurückschaut und bis zu jenem Augenblick weiterzieht, an dem die Wiederkunft des Herrn erfolgt«.

Gerade im Hinblick auf diese ganz konkrete Begebenheit, die sich im Lauf der Jahrhunderte entfaltet hat und die auch heute noch fortdauert, fügte der Papst hinzu, dass wir uns dann, wenn wir davon ausgehen, »dass wir Männer und Frauen sind, die Teil der Geschichte sind«, bewusst werden, dass es sich dabei um »die Geschichte der Gnade Gottes handelt, weil Gott mit seinem Volk voranzog, er zog voran, er wohnte unter ihnen«. Auch in dem Abschnitt aus der Apostelgeschichte erwähne Paulus beispielsweise »den heiligen König David«, der aber, »bevor er heilig wurde, ein großer Sünder war«. Und das, so betonte er, gelte »auch heute noch«, wenn »die persönliche Geschichte jedes einzelnen Menschen« »die eigene Sünde und die Gnade des Herrn, der bei uns ist«, annehmen müsse. Tatsächlich begleite Gott uns auch in der Sünde, »um zu vergeben«, und er begleite uns »auch in der Gnade«.

Das, was Franziskus in der Predigt darlegte, ist also eine ganz konkrete Realität, die sich durch die Jahrhunderte ziehe: »Wir«, so sagte er, »sind nicht entwurzelt«, wir hätten »tief reichende Wurzeln«, die wir niemals vergessen dürften und die »von unserem Vater Abraham bis zum heutigen Tag« reichten. Zu verstehen, dass wir nicht allein seien, sondern dass wir eng verbunden seien mit einem Volk, das seit Jahrhunderten auf Wanderschaft sei, heiße auch einen weiteren charakteristischen Wesenszug des Christen zu verstehen, und zwar »den, den Jesus uns im Evangelium lehrt: den Dienst«. Im Evangelientext aus Johannes, den die Liturgie für den Donnerstag der vierten Osterwoche vorgibt, »wäscht Jesus den Jüngern die Füße. Und nachdem er ihnen die Füße gewaschen hatte, sagte er zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr, und der Abgesandte ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat. Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen.«

Es scheine klar, so konstatierte der Papst, dass »die christliche Identität im Dienst besteht, nicht im Egoismus«. Jemand, so sagte er, könnte darauf erwidern: »Aber Vater, wir alle sind Egoisten«, aber das »ist eine Sünde, es ist eine Gewohnheit, die wir ablegen müssen«: wir müssten also »um Vergebung bitten, damit der Herr uns verwandeln kann«. Das Christsein sei in der Tat »keine Pose oder Sozialverhalten, es besteht nicht darin, sich ein wenig die Seele zurechtzuschminken, damit sie ein wenig schöner aussieht«. Christsein, so sagte der Papst mit Nachdruck, »heißt das tun, was Jesus getan hat: dienen. Er ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen.«

Daraus leitete der Papst einige Anregungen für das Alltagsleben jedes Einzelnen von uns ab. Vor allem »denkt über diese beiden Dinge nach: Habe ich Geschichtssinn? Verstehe ich mich als Teil eines Volkes, das seit sehr langer Zeit auf Wanderschaft ist?« Es könnte hilfreich sein, »sich die Bibel vorzunehmen, das Buch Deuteronomium, Kap. 26, und es zu lesen«. Dort, so sagte er, stoße man auf »die Erinnerung, die Erinnerung der Gerechten« und »wie der Herr will, dass wir gedächtnisstark sein sollen, also dass wir uns an den Weg erinnern, den unser Volk zurückgelegt hat«. Und ferner werde es uns auch gut tun, zu denken: »Was tue ich in meinem Herzen am häufigsten? Lasse ich mich von anderen bedienen, bediene ich mich der anderen, der Gemeinschaft, der Pfarrgemeinde, meiner Familie, meiner Freunde, oder diene ich, bin ich zu Diensten?« »Erinnerung und Dienst« seien also die beiden Einstellungen des Christen, jene Einstellungen, mit denen man sich auch zur eucharistischen  Feier begebe, »die gerade die Erinnerung des Dienstes ist, den Jesus geleistet hat; eine wirkliche Erinnerung, mit Ihm, an den Dienst, den er uns erwiesen hat: dass er sein Leben für uns gegeben hat«.

 



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