Index   Back Top Print

[ DE ]

PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"

 

Sehnsucht nach dem Zuhause

Donnerstag, 1. Oktober  2015

 

aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 42, 16. Oktober 2015

 

Die »Sehnsucht nach Gott« ist es, die uns in ihm unsere wahre »Identität« finden lässt. Mit diesem starken Bewusstsein, das auch durch die Geschichte des Volkes Israel herangereift ist, hat der Papst dazu aufgefordert, sich selbst im Innern zu betrachten, um jene »Sehnsucht« im eigenen Herzen nie verlöschen zu lassen.

In der Messe, die er am Donnerstag, dem 1. Oktober, Gedenktag der heiligen Therese vom Kinde Jesus, in der Kapelle der Casa Santa Marta gefeiert hat, nahm der Papst Bezug auf die erste Lesung, die dem Buch Nehemia entnommen ist (8,1-4.5-6.7-12), um in Erinnerung zu rufen, dass der Text »das Ende einer langen Geschichte darstellt, einer Geschichte, die Jahrzehnte, lange Jahre dauerte: Das Volk Israel war nach Babylonien verschleppt worden, es war fern von Jerusalem, und seit vielen Jahren, seit Jahrzehnten, lebte es dort«. Und »sehr viele von ihnen gewöhnten sich an jenes Leben und vergaßen fast ihre Heimat«. Aber »etwas in ihrem Innern ließ immer wieder die Erinnerung wachwerden, und wenn jener Augenblick der Erinnerung kam, beteten sie mit den Worten des Psalms: »Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, / wenn ich an dich nicht mehr denke.« Trotzdem, so Franziskus weiter, »war es eine unerreichbare, ferne Erinnerung, eine Vergangenheit, die nie zurückkehren würde«. Solange bis »Nehemia, ein dem König sehr nahestehender Israelit die Erlaubnis erhielt, nach Jerusalem zurückzukehren, um es wieder aufzubauen, denn es war völlig verfallen, ganz dem Verfall preisgegeben«. So »begann die Geschichte der Jahre der Rückkehr nach Jerusalem«.

Der Papst sagte: »Es ist eine schwere Geschichte, weil sie das Holz transportieren und dann die Steine finden mussten, um Mauern zu bauen. Aber auch dort waren einige, die es nicht wollten und die neuen Mauern zerstörten.« Daher »hielten jene, die die Stadt wieder aufbauen wollten, nachts Wache, um die Mauern zu schützen: Und so ging es.« Dann, so fuhr der Papst fort, indem er dem biblischen Text folgte, »zerstörten sie die Altäre der Götzen und erbauten langsam den Altar Gottes, den Tempel«. Denn »das geschah nicht an einem Tag, sondern dauerte Jahre«. Und »am Ende kam jener Tag, von dem wir heute gehört haben: Sie fanden das Gesetz, das Buch des Gesetzes«.

»Nehemia bittet den Schriftgelehrten Esra, es dem Volk, dem ganzen Volk zu verlesen, vor ihnen auf dem Platz.« Und »der Schriftgelehrte Esra verlas mit Hilfe weiterer Schriftgelehrter das Gesetz, und das Volk begann zu spüren, dass jene Erinnerung, die es hatte, wahrhaftig war – jene Erinnerung, die es davon abhielt, in der Verbannung die Lieder Jerusalems zu singen: »Wie können wir singen die Lieder des Herrn, / fern, auf fremder Erde?« Jenes Volk, erläuterte Franziskus, »hat das gespürt, was der Psalm so elegant zum Ausdruck bringt: »Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, / … da war unser Mund voll Lachen.« Es ist wirklich »ein glückliches Volk«.

Der Papst macht auf etwas »Seltsames« aufmerksam: Das Volk Israel »freute sich, aber es weinte, und es hörte das Wort Gottes; es empfand Freude, aber auch Trauer, alles zusammen«. Wie erklärt sich das? Er sagte: »Dieses Volk hatte nicht einfach nur seine Stadt gefunden, die Stadt, in der es geboren war, sondern es fand seine Identität, und daher freute es sich und weinte.« So sehr, dass Nehemia zusammen mit den Leviten die Menschen mit diesen Worten ermahnte: »Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren des Herrn, eures Gottes. Seid nicht traurig und weint nicht!« Denn, so sagte der Papst, »das ganze Volk weinte, als esdie Worte des Gesetzes hörte: Es weinte jedoch vor Freude, es weinte, weil es seine Identität erkannt hatte, jene Identität wiedergefunden hatte, die in den Jahren der Gefangenschaft etwas verlorengegangen war.«

Für das Volk Israel war es »ein langer Weg«. Daher mahnte Nehemia: »Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.« Und »die Freude schenkt der Herr, wenn wir unsere Identität finden«. Aber »unsere Identität geht auf dem Weg verloren, sie geht in vielen unserer Verbannungen oder Selbst-Verbannungen verloren, wenn wir ein Nest hier, ein Nest dort bauen und nicht im Haus des Herrn«. Daher ist es so wichtig, »die eigene Identität zu finden«. Franziskus stellte also die Frage, wie man die eigene Identität findet. »Es gibt eine Spur, die dich dorthin führt: Es ist die Sehnsucht, die Sehnsucht nach deinem Zuhause.« Denn »wenn du das verloren hast, was dir gehörte, dein Zuhause, was wirklich dir gehörte, dann kommt in dir diese Sehnsucht auf, und diese Sehnsucht bringt dich wieder nach Hause«. Genauso war es auch für das Volk Israel, das »durch diese Sehnsucht gespürt hat, dass es glücklich war, und daherweinte es vor Freude, denn die Sehnsucht nach  der eigenen Identität hatte es dahin geführt, sie zu finden: eine Gnade Gottes.«

Franziskus mahnte eine Gewissenserforschung an und unterbreitete folgende Reflexion: »Wenn wir zum Beispiel mit Speise gesättigt sind, dann haben wir keinen Hunger; wenn wir dort, wo wir sind, bequem und ruhig leben, dann brauchen wir nicht an einen anderen Ort zu gehen. Und ich frage mich, und wir alle sollten uns heute fragen: Lebe ich ruhig, zufrieden, brauche ich nichts – im geistlichen Sinne, meine ich – in meinem Herzen? Ist meine Sehnsucht verlöscht?« Der Papst hat noch einmal dazu aufgefordert, das Volk zu betrachten, das »glücklich war und weinte und voll Freude war: Ein Herz, das keine Sehnsucht hat, kennt die Freude nicht«. Und »gerade die Freude ist unsere Kraft: die Freude Gottes«. Denn »ein Herz, das nicht weiß, was Sehnsucht ist, kann kein Fest feiern, und dieser ganze Weg, der vor Jahren begonnen hat, endet mit einem Fest.«

Der Abschnitt aus dem Buch Nehemia endet mit einem Bild: »Da gingen alle Leute nach Hause, um zu essen und zu trinken und auch andern davon zu geben und um ein großes Freudenfest zu begehen; denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen verkündet hatte.« Sie hatten also »das gefunden, was die Sehnsucht sie spüren ließ«, um »voranzugehen«. Abschließend sagte der Papst noch einmal, dass alle sich fragen sollten: »Wie ist es um unsere Sehnsucht nach Gott bestellt: Sind wir so zufrieden, sind wir glücklich, oder haben wir jeden Tag den Wunsch voranzugehen?« Und im Gebet bat er darum, »dass der Herr uns diese Gnade gewähre: Nie, nie, nie möge in unserem Herzen die Sehnsucht nach Gott verlöschen«.

 



Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana