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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
BEIM TRADITIONELLEN WEIHNACHTSEMPFANG FÜR DIE RÖMISCHE KURIE

Montag, 21. Dezember 2020

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Liebe Brüder und Schwestern,

1. Die Geburt Jesu von Nazaret, das Geheimnis seiner Geburt, erinnert uns daran, dass wir »nicht geboren werden, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen«,[1] wie die jüdische Philosophin Hanna Arendt eindrucksvoll und prägnant bemerkt, und damit das Denken ihres Lehrers Heidegger umkehrt, wonach der Mensch geboren wird, um in den Tod geworfen zu werden. Auf dem Hintergrund der Trümmer der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts erkennt Arendt diese lichte Wahrheit:»Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als „Gesetz“ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein […]. Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien „die frohe Botschaft“ verkünden: „Uns ist ein Kind geboren“«.[2]

2. Dem Geheimnis der Menschwerdung, dem Kind, das in einer Krippe liegt (vgl. Lk 2,16), wie auch dem Ostergeheimnis, der Gegenwart des Gekreuzigten, begegnen wir nur dann in rechter Weise, wenn wir unsere Waffen ablegen und demütig und wesentlich sind; nur dann, wenn wir in der Umgebung, in der wir leben – auch in der römischen Kurie –, das vom heiligen Paulus vorgeschlagene Lebensprogramm verwirklicht haben: »Jede Art von Bitterkeit und Wut und Zorn und Geschrei und Lästerung mit allem Bösen verbannt aus eurer Mitte! Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, wie auch Gott euch in Christus vergeben hat (Eph 4,31-32); nur dann, wenn wir einander in Demut begegnen (vgl. 1 Petr 5,5) und Jesus nachahmen, der »gütig und von Herzen demütig« ist (Mt 11,29); nur dann, wenn wir »den untersten Platz« eingenommen haben (Lk 14,10) und »Diener aller« geworden sind (vgl. Mk 10,44). Und diesbezüglich geht der heilige Ignatius in seinen Exerzitien so weit, dass er uns auffordert, uns in die Krippenszene hineinzuversetzen. Er schreibt: »Ich mache mich zu einem kleinen Armen und einem unwürdigen Knechtlein, indem ich sie anschaue, sie betrachte und ihnen in ihren Nöten diene« (114,2).

Ich danke dem Dekan des Kardinalkollegiums für seine Begrüßungsworte zu diesen Weihnachten, mit denen er die Empfindungen aller zum Ausdruck gebracht hat. Danke, Kardinal Re.

3. Dieses Weihnachtsfest ist das Weihnachtsfest in der Pandemie, der gesundheitlichen Krise, der sozialökonomischen Krise, aber auch der kirchlichen Krise, die die ganze Welt unterschiedslos getroffen hat. Die Krise ist nicht mehr nur ein Allgemeinplatz des Diskurses und des intellektuellen Establishments, sie ist zu einer Realität geworden, die alle betrifft.

Diese Geißel war eine beachtliche Bewährungsprobe und zugleich eine große Chance, uns zu bekehren und wieder authentisch zu werden.

Als ich am 27. März diesen Jahres auf dem leeren Petersplatz – der dennoch erfüllt war von einer allgemeinen Zusammengehörigkeit, die bis in den letzten Winkel der Erde reicht und uns alle vereint – als ich dort für alle und mit allen beten wollte, hatte ich Gelegenheit, die mögliche Bedeutung des „Sturms“ (vgl. Mk 4,35-41), der die Welt heimgesucht hatte, laut auszusprechen: »Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen. Der Sturm entlarvt all unsere Vorhaben, was die Seele unserer Völker ernährt hat, „wegzupacken“ und zu vergessen; all die Betäubungsversuche mit scheinbar „heilbringenden“ Angewohnheiten, die jedoch nicht in der Lage sind, sich auf unsere Wurzeln zu berufen und die Erinnerung unserer älteren Generation wachzurufen, und uns so der Immunität berauben, die notwendig ist, um den Schwierigkeiten zu trotzen. Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser „Ego“ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene (gesegnete) gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind.«

4. Die Vorsehung wollte es, dass ich gerade in dieser schwierigen Zeit die Enzyklika Fratelli tutti schreiben konnte, die dem Thema der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft gewidmet ist. Und eine Lehre aus den Kindheitsevangelien, in denen die Geburt Jesu erzählt wird, ist die eines neuen Zusammenwirkens – sozusagen einer neuen Komplizenschaft! – und einer neu entstehenden Einheit zwischen den Hauptpersonen: Maria, Josef, die Hirten, die Sterndeuter und all jene, die auf die eine oder andere Weise ihre geschwisterliche Verbundenheit, ihre Freundschaft angeboten haben, damit das fleischgewordene Wort im Dunkel der Geschichte Aufnahme finden konnte (vgl. Joh 1,14). Am Anfang dieser Enzyklika habe ich geschrieben: »Ich habe den großen Wunsch, dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken. Bei allen: „Dies ist ein schönes Geheimnis, das es ermöglicht, zu träumen und das Leben zu einem schönen Abenteuer zu machen. Niemand kann auf sich allein gestellt das Leben meistern [...]. Es braucht eine Gemeinschaft, die uns unterstützt, die uns hilft und in der wir uns gegenseitig helfen, nach vorne zu schauen. Wie wichtig ist es, gemeinsam zu träumen! [...] Allein steht man in der Gefahr der Illusion, die einen etwas sehen lässt, das gar nicht da ist; zusammen jedoch entwickelt man Träume.“[3] Träumen wir als eine einzige Menschheit, als Weggefährten vom gleichen menschlichen Fleisch, als Kinder der gleichen Erde, die uns alle beherbergt, jeden mit dem Reichtum seines Glaubens oder seiner Überzeugungen, jeden mit seiner eigenen Stimme, alle Brüder und Schwestern!« (Nr. 8).

5. Die Krise der Pandemie ist eine gute Gelegenheit für eine kurze und allgemein hilfreiche Reflexion über die Bedeutung von Krisen.

Die Krise ist ein Phänomen, das alles und jeden angeht. Sie kommt überall und in jeder Epoche der Geschichte vor und betrifft Ideologien, Politik, Wirtschaft, Technologie, Ökologie und Religion. Sie ist eine unumgängliche Phase der persönlichen Geschichte und der sozialen Geschichte. Sie manifestiert sich als ein außerordentliches Ereignis, das immer ein Gefühl von Beklemmung, Angst, Unausgewogenheit und Unsicherheit bei den zu treffenden Entscheidungen hervorruft. Daran erinnert auch die etymologische Wurzel des Verbs krino: Die Krise ist das Sieben, das das Weizenkorn nach der Ernte reinigt.

Auch die Bibel ist voll von Menschen, die solch einen „Sieb“ durchlaufen haben, von „Krisengestalten“, die aber gerade dadurch Heilsgeschichte schrieben.

Die Krise Abrahams, der sein Land verlässt (Gen 12,1-2) und vor der schweren Prüfung steht, seinen einzigen Sohn Gott opfern zu müssen (Gen 22,1-19), findet in heilsgeschichtlicher Perspektive in der Geburt eines neuen Volkes ihre Auflösung. Diese Verheißung bewahrt Abraham jedoch nicht vor jenem Drama, in dem Verwirrung und Fassungslosigkeit nur aufgrund seines starken Glaubens nicht die Oberhand gewannen.

Die Krise des Mose wird an seinem mangelnden Selbstvertrauen sichtbar: »Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?« (Ex 3,11); »Ich bin keiner, der gut reden kann, [...]. Mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig« (Ex 4,10); ich bin »ungeschickt im Reden« (Ex 6,12.30). Aus diesem Grund versucht er, sich der ihm von Gott übertragenen Aufgabe zu entziehen: Herr, sende andere (vgl. Ex 4,13). Aber durch diese Krise machte Gott Moses zu seinem Diener, der das Volk aus Ägypten herausführte.

Elia, der Prophet, der so stark war, dass er mit dem Feuer verglichen wurde (vgl. Sir 48,1), sehnte sich in einer tiefen Krise sogar nach dem Tod. Dann aber erfuhr er Gottes Gegenwart nicht im stürmischen Wind, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, sondern in »einem sanften leisen Säuseln (vgl. 1 Könige 19,11-12). Die Stimme Gottes ist niemals das Toben der Krise, sondern die ruhige Stimme, die gerade in der Krise zu uns spricht.

Johannes den Täufer plagen Zweifel, ob Jesus der Messias sei (vgl. Mt 11,2-6), weil er nicht als der Rächer auftrat, den er vielleicht erwartet hatte (vgl. Mt 3,11-12); aber direkt nach der Gefangennahme des Johannes beginnt Jesus; das Evangelium Gottes zu verkündigen.

Und schließlich ist da die theologische Krise des Paulus von Tarsus: Erschüttert durch die umwerfende Begegnung mit Christus auf dem Weg nach Damaskus (vgl. Apg 9,1-19; Gal 1,15-16), gibt er seine Gewissheiten auf und folgt Jesus nach (vgl. Phil 3,4-10). Der heilige Paulus war in der Tat ein Mann, der sich von der Krise verwandeln ließ, und aus diesem Grund wurde er zum Architekten jener Krise, welche die Kirche über die Grenzen Israels hinausdrängte und bis an die Enden der Erde gelangen ließ.

Wir könnten die Liste der biblischen Gestalten noch fortführen, und jeder von uns könnte darin seinen eigenen Platz finden. Es sind viele.

Am aussagekräftigsten jedoch ist die Krise Jesu. Die synoptischen Evangelien machen deutlich, dass er sein öffentliches Leben mit der Krisenerfahrung der Versuchungen beginnt. Auch wenn es den Anschein haben mag, dass bei dieser Begebenheit der Teufel mit seinen falschen Versprechungen die Hauptrolle spielt, so ist in Wirklichkeit der Heilige Geist der eigentliche Protagonist; er ist es nämlich, der Jesus in dieser für sein Leben entscheidenden Zeit geleitet: »Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom Teufel versucht zu werden« (Mt 4,1).

Die Evangelisten betonen, dass die vierzig Tage, die Jesus in der Wüste lebte, von Hunger und Schwäche geprägt waren (vgl. Mt 4,2; Lk 4,2). Und auf eben diesem Hintergrund des Hungers und der Schwäche versucht der Böse seine Trümpfe auszuspielen, indem er bei der erschöpften menschlichen Natur Jesu ansetzt. Aber in diesem Menschen, der durch das Fasten geprüft war, erfährt der Versucher die Gegenwart des Sohnes Gottes, der die Versuchung durch das Wort Gottes zu überwinden weiß, nicht durch das eigene. Jesus hält nie Zwiesprache mit dem Teufel, niemals; daraus sollten wir etwas lernen: Mit dem Teufel diskutiert man nicht. Jesus treibt ihn entweder aus oder er zwingt ihn, zu sagen, wer er ist; aber mit dem Teufel sollte man nie diskutieren.

Später, in Gethsemane, befand sich Jesus in einer unbeschreiblichen Krise: Einsamkeit, Angst, Qualen, der Verrat des Judas und die Erfahrung, von den Aposteln verlassen worden zu sein (vgl. Mt 26,36-50). Schließlich dann die äußerste Krise am Kreuz: Solidarität mit den Sündern bis hin zu dem Gefühl, vom Vater verlassen worden zu sein (vgl. Mt 27,46). Trotzdem legte er seinen Geist voll Vertrauen in die Hände des Vaters (vgl. Lk 23,46). Und diese vollständige und vertrauensvolle Hingabe eröffnete den Weg zur Auferstehung (vgl. Hebr 5,7).

6. Brüder und Schwestern, diese Reflexion über die Krise warnt uns davor, die Kirche vorschnell nach den Krisen zu beurteilen, die durch die Skandale von gestern und heute verursacht wurden. Das tat der Prophet Elija, als er dem Herrn gegenüber sein Herz ausschüttete und dabei ein hoffnungsloses Bild der Wirklichkeit zeichnet: »Mit Leidenschaft bin ich für den Herrn, den Gott der Heerscharen, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übriggeblieben und nun trachten sie auch mir nach dem Leben« (1 Kön 19,14). Und wie oft scheint auch unseren kirchlichen Analysen die Hoffnung zu fehlen. Ein hoffnungsloser Blick auf die Wirklichkeit kann nicht als realistisch bezeichnet werden. Die Hoffnung gibt unseren Analysen das, was unsere kurzsichtigen Augen so oft nicht wahrnehmen können. Gott antwortet Elija, dass die Wirklichkeit nicht so ist, wie er sie wahrgenommen hat: »Geh deinen Weg durch die Wüste zurück und begib dich nach Damaskus; [...] Ich werde in Israel siebentausend übriglassen, alle, deren Knie sich vor dem Baal nicht gebeugt und deren Mund ihn nicht geküsst hat« (1 Kön 19,15.18). Es ist nicht wahr, dass Elija allein ist: er ist in der Krise.

Gott lässt auch weiterhin den Samen seines Reiches in unserer Mitte gedeihen. Hier in der Kurie gibt es viele, die mit der bescheidenen, der diskreten – ohne Klatsch und Tratsch –, mit der stillen, loyalen, professionellen und ehrlichen Arbeit Zeugnis ablegen. Es sind viele unter euch, danke! Auch unsere Zeit hat ihre Probleme, aber ebenso gibt es das lebendige Zeugnis dafür, dass der Herr sein Volk nicht im Stich gelassen hat. Der einzige Unterschied ist, dass die Probleme sofort in den Zeitungen landen – dies erleben wir jeden Tag –, während die Zeichen der Hoffnung erst nach langer Zeit Schlagzeilen machen und das auch nicht immer.

Wer die Krise nicht im Licht des Evangeliums betrachtet, beschränkt sich darauf, die Autopsie einer Leiche durchzuführen: er betrachtet die Krise ohne die Hoffnung des Evangeliums, ohne das Licht des Evangeliums. Die Krise ist nicht nur deswegen so erschreckend für uns, weil wir verlernt haben, sie so zu sehen, wie das Evangelium es uns nahelegt, sondern weil wir vergessen haben, dass allem voran das Evangelium selbst uns in eine Krise bringt.[4] Es ist das Evangelium, das uns in die Krise führt. Wenn wir aber wieder den Mut und die Demut finden, laut auszusprechen, dass die Zeit der Krise eine Zeit des Heiligen Geistes ist, dann werden wir uns auch angesichts der Erfahrung von Dunkelheit, Schwäche, Zerbrechlichkeit, Widersprüchen und Verwirrung nicht mehr niedergeschlagen fühlen, sondern immer ein inniges Vertrauen darauf bewahren, dass die Dinge gerade eine neue Form annehmen, die allein aus der Erfahrung einer im Dunklen verborgenen Gnade entsprang. »Denn im Feuer wird Gold geprüft, und die anerkannten Menschen im Schmelzofen der Erniedrigung« (Sir 2,5).

7. Schließlich möchte ich euch dringend bitten, eine Krise nicht mit einem Konflikt zu verwechseln. Das sind zwei verschiedene Dinge! Die Krise hat im Allgemeinen einen positiven Ausgang, während ein Konflikt immer Auseinandersetzung, Wettstreit und einen scheinbar unlösbaren Antagonismus hervorbringt, bei dem die Menschen in liebenswerte Freunde und zu bekämpfende Feinden eingeteilt werden, wobei am Schluss nur eine der Parteien als Siegerin hervorgehen kann.

Die Logik des Konflikts sucht immer nach „Schuldigen“, die man stigmatisiert und verachtet, und nach „Gerechten“, über die man nichts kommen lässt, um das – oft magische – Bewusstsein zu schaffen, dass man mit dieser oder jener Situation nichts zu tun hat. Dieser Verlust eines Zusammengehörigkeitsgefühls begünstigt das Wachsen oder die Verhärtung bestimmter elitärer Haltungen und „geschlossener Gruppen“, die begrenzende und partielle Denkweisen fördern, die die Universalität unserer Mission verarmen lassen. »Wenn wir im Auf und Ab der Konflikte verharren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit der Wirklichkeit« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 226).

Interpretiert man die Kirche nach den Kategorien des Konflikts – rechts und links, progressiv und traditionalistisch – fragmentiert, polarisiert, pervertiert man sie; man verrät ihr wahres Wesen: Sie ist ein Leib, der fortwährend in der Krise ist, gerade weil er lebendig ist, aber sie darf niemals zu einem Leib werden, der in einem Konflikt mit Siegern und Besiegten steht. In der Tat wird sie auf diese Weise Angst verbreiten; sie wird starrer und weniger synodal werden und eine einheitliche und vereinheitlichende Logik durchsetzen, die so weit von dem Reichtum und der Pluralität entfernt ist, die der Geist seiner Kirche geschenkt hat.

Die Neuheit, die durch die vom Geist gewollte Krise eingeführt wurde, ist niemals eine Neuheit, die im Widerspruch zum Alten steht, sondern eine Neuheit, die aus dem Alten hervorgeht und es fortwährend fruchtbar macht. Jesus verwendet einen Ausdruck, der diesen Übergang auf einfache und klare Weise ausdrückt: »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht« (Joh 12,24). Das Absterben des Samens ist ein ambivalenter Akt, denn er markiert gleichzeitig das Ende von etwas und den Anfang von etwas Anderem. Wir nennen den gleichen Moment Tod/Vergehen Geburt/Aufkeimen, weil beide ein und dasselbe sind: wir sehen mit unseren Augen ein Ende und zugleich zeigt sich in diesem Ende ein neuer Anfang.

In diesem Sinne verdammen uns alle Widerstände, die wir beim Eintreten in die Krise aufbringen, wo wir uns in der Zeit der Prüfung vom Geist leiten lassen, dazu, dass wir allein und steril bleiben und höchstens in einen Konflikt geraten. Indem wir uns gegen die Krise wehren, behindern wir das Werk der Gnade Gottes, die sich in uns und durch uns manifestieren will. Wenn uns also ein gewisser Realismus unsere jüngste Geschichte nur als die Summe von nicht immer geglückten Versuchen, Skandalen, Stürzen, Sünden, Widersprüchen und Kurzschlüssen beim Zeugnisgeben darstellt, sollten wir weder erschrecken, noch sollten wir die Evidenz all dessen leugnen, was in uns und in unseren Gemeinschaften vom Tod betroffen ist und der Bekehrung bedarf. Alles, was böse, widersprüchlich, schwach und zerbrechlich ist und sich offen zeigt, erinnert uns noch stärker an die Notwendigkeit, alles Denken und Tun, das dem Evangelium nicht entspricht, in uns absterben zu lassen. Nur wenn wir eine bestimmte Mentalität absterben lassen, wird es uns auch gelingen, Platz für das Neue zu schaffen, das der Geist ständig im Herzen der Kirche weckt. Die Kirchenväter waren sich dessen bewusst. Sie nannten es die „metanoia“.

8. In jeder Krise gibt es immer ein begründetes Bedürfnis nach einem aggiornamento: das ist ein Schritt vorwärts. Aber wenn wir wirklich eine solche Aktualisierung wollen, müssen wir den Mut zu einer umfassenden Bereitschaft haben; wir müssen aufhören, die Reform der Kirche als das Flicken eines alten Kleides zu betrachten oder als schlichte Abfassung einer neuen Apostolischen Konstitution. Die Reform der Kirche ist etwas Anderes.

Es geht nicht darum, „ein Gewand zu flicken“, denn die Kirche ist kein einfaches „Gewand“ Christi, sondern sein Leib, der die ganze Geschichte umfasst (vgl. 1 Kor 12,27). Wir sind nicht aufgerufen, den Leib Christi zu verändern oder zu reformieren – »Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit«! (Hebr 13,8) – aber wir sind aufgerufen, denselben Leib mit einem neuen Gewand zu bekleiden, damit klar ersichtlich wird, dass die Gnade, die wir besitzen, nicht von uns, sondern von Gott kommt; denn »diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt« (2 Kor 4,7). Die Kirche ist immer ein zerbrechliches Gefäß, wertvoll aufgrund ihres Inhaltes, und nicht aufgrund dessen, was sie manchmal von sich zeigt. Am Schluss will ich euch gerne ein Buch mitgeben, ein Geschenk von Pater Ardura, in dem das Leben eines Gefäßes aus Lehm beschrieben wird, das die Größe Gottes widergespiegelt hat und die Reformen der Kirche. Heute leben wir in einer Zeit, in der es evident erscheint, dass der Ton, aus dem wir gebildet sind, angeschlagen, rissig und zerbrochen ist. Wir müssen uns darum bemühen, dass unsere Zerbrechlichkeit nicht zu einem Hindernis für die Verkündigung des Evangeliums wird, sondern zu einem Ort, an dem sich die große Liebe offenbart, mit der Gott, reich an Barmherzigkeit, uns geliebt hat und weiterhin liebt (vgl. Eph 2,4). Wenn wir Gott, der reich an Barmherzigkeit ist, aus unserem Leben herausschneiden würden, wäre dieses Leben nur eine Lüge, ein Trugschluss.

Für die Zeit der Krise warnt uns Jesus vor einigen Lösungsversuchen, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. »Niemand schneidet ein Stück von einem neuen Gewand ab und setzt es auf ein altes Gewand.« Das Ergebnis wäre absehbar: Das Neue wäre zerschnitten, denn »zum dem alten würde das Stück von dem neuen nicht passen«. Entsprechend »füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst würde ja der junge Wein die Schläuche zerreißen; er läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. […] Jungen Wein muss man in neue Schläuche füllen« (Lk 5,36-38).

Das richtige Verhalten hingegen ist das des »Schriftgelehrten, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist«, und der »einem Hausherrn [gleicht], der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt« (Mt 13,52). Der Schatz ist die Tradition, wie Benedikt XVI. in Erinnerung rief, sie ist »der lebendige Fluss, der uns mit den Ursprüngen verbindet, der lebendige Fluss, in dem die Ursprünge stets gegenwärtig sind, der große Fluss, der uns zum Hafen der Ewigkeit führt« (Katechese, 26. April 2006). Es kommt mir der Ausspruch jenes großen deutschen Musikers in den Sinn: „Die Tradition ist die Wahrung der Zukunft und kein Museum, keine Hüterin der Asche“. Das „Alte“ ist die Wahrheit und Gnade, die wir bereits besitzen. Das Neue sind die verschiedenen Aspekte der Wahrheit, die wir allmählich verstehen. Jenes Wort aus dem fünften Jahrhundert: „Ut annis scilicet consolidetur, dilatetur tempore, sublimetur aetate“: das ist die Tradition, so wächst sie. Keine geschichtliche Weise, das Evangelium zu leben, gelangt je zu einem erschöpfenden Verständnis desselben. Wenn wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen, werden wir »der ganzen Wahrheit« (Joh 16,13) Tag für Tag näherkommen. Ohne die Gnade des Heiligen Geistes, selbst wenn man beginnt, die Kirche synodal zu denken, wird sie sich, anstatt sich auf die Gemeinschaft in der Gegenwart des Geistes zu beziehen, als eine beliebige demokratische Versammlung verstehen, die sich aus Mehrheiten und Minderheiten zusammensetzt. Wie ein Parlament, zum Beispiel: und das ist nicht die Synodalität. Allein die Gegenwart des Heiligen Geistes macht den Unterschied.

9. Was ist in der Krise zu tun? Zunächst einmal sollte man sie als eine Zeit der Gnade annehmen, die uns gegeben ist, um Gottes Willen für jeden von uns und für die ganze Kirche zu verstehen. Wir müssen uns auf diese scheinbar widersprüchliche Logik einlassen, die uns sagt: »Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (2 Kor 12,10). Wir müssen uns an die Zusicherung erinnern, die der heilige Paulus den Korinthern gegeben hat: »Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch mit der Versuchung auch einen Ausweg schaffen, sodass ihr sie bestehen könnt« (1 Kor 10,13).

Von grundlegender Bedeutung ist es, den Dialog mit Gott nicht zu unterbrechen, auch dann nicht, wenn es mühsam ist. Beten ist nicht leicht. Wir dürfen nicht müde werden, allezeit zu beten (vgl. Lk 21,36; 1 Thess 5,17). Wir kennen keine andere Lösung für die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, als mehr zu beten und gleichzeitig mit mehr Vertrauen alles zu tun, was uns möglich ist. Das Gebet wird uns befähigen, entgegen aller Erwartungen dennoch zu hoffen (vgl. Röm 4,18).

10. Liebe Brüder und Schwestern, lasst uns großen Frieden und Gelassenheit bewahren, in dem vollen Bewusstsein, dass wir alle, ich zuerst, nur »unnütze Knechte« (Lk 17,10) sind, denen der Herr Barmherzigkeit erwiesen hat. Aus diesem Grund wäre es schön, wenn wir aufhören würden, im Konflikt zu leben, und uns stattdessen wieder bewusst würden, dass wir unterwegs sind, offen für die Krisen. Der Weg hat immer mit Verben der Bewegung zu tun. Die Krise ist Bewegung, sie ist Teil des Weges. Der Konflikt hingegen ist ein scheinbarer Weg, ein Herumbummeln ohne Ziel und Zweck, ein Verweilen im Labyrinth, eine reine Energieverschwendung und eine Gelegenheit für das Böse. Und das erste Übel, zu dem der Konflikt uns führt und von dem wir versuchen sollten uns fernzuhalten, ist eben das Geschwätz: Passen wir hier auf! Das ist keine Manie, die ich habe, wenn ich gegen das Geschwätz rede. Es ist die Anklage gegen ein Übel, das in die Kurie eindringt. Hier im Palast gibt es viele Türen und Fenster, in die es eindringt. Und wir gewöhnen uns daran. Dann der Klatsch, der uns in der traurigsten, unangenehmsten und erstickendsten Selbstbezogenheit verschließt und jede Krise in einen Konflikt verwandelt. Das Evangelium sagt uns, dass die Hirten der Verkündigung des Engels glaubten und sich auf den Weg zu Jesus machten (vgl. Lk 2,15-16). Herodes hingegen verschloss sich der Erzählung der Sterndeuter und seine Verschlossenheit verwandelte sich in Lüge und Gewalt (vgl. Mt 2,1-16).

Jeder von uns, unabhängig von seinem Platz in der Kirche, möge sich fragen, ob er Jesus mit der Folgsamkeit der Hirten oder mit der Selbstbehauptung des Herodes folgen will, ob er ihm in die Krise folgen oder sich im Konflikt vor ihm verteidigen will.

Erlaubt mir, euch alle, die ihr mit mir im Dienst des Evangeliums steht, ausdrücklich um ein Weihnachtsgeschenk zu bitten: Eure großzügige und leidenschaftliche Mitarbeit bei der Verkündigung der Frohen Botschaft vor allem an die Armen (vgl. Mt 11,5). Denken wir daran, dass nur der Gott wirklich kennt, der den Armen aufnimmt, der von unten mit seinem Elend zu uns kommt, und der gerade in diesem Gewand von oben gesandt ist; wir können das Antlitz Gottes nicht sehen, aber wir können ihn in seiner Hinwendung zu uns erfahren, wenn wir das Antlitz unseres Nächsten ehren, des anderen, der uns mit seinen Nöten in Anspruch nimmt.[5] Das Gesicht der Armen. Die Armen sind die Mitte des Evangeliums. Mir kommt in den Sinn, was jener heilige brasilianische Bischof gesagt hat: „Wenn ich mich den Armen widme, sagen sie über mich, ich sei ein Heiliger; aber wenn ich mich frage und die Frage stelle ‚Warum so viel Armut?‘, sagen sie mir: ‚Du Kommunist‘.

Niemand möge das Werk, das der Herr in diesem Augenblick tut, aus freien Stücken behindern. Bitten wir um die Gabe dienender Demut, auf dass er wachse, wir aber abnehmen (vgl. Joh 3,30).

Ich wünsche jedem einzelnen von euch, euren Familien und Freunden frohe und gesegnete Weihnachten! Und danke, vielen Dank für eure Arbeit. Und bitte, betet immer für mich, dass ich den Mut habe, in der Krise auszuhalten. Frohe Weihnachten! Danke.

[Segen]

Ich habe vergessen, euch zu sagen, dass ich euch zwei Bücher schenken werde. Eines ist das Leben des heiligen Charles de Foucault, ein Meister der Krise, der uns ein Geschenk, ein sehr schönes Erbe hinterlassen hat. Dieses Buch ist ein Geschenk, das Pater Ardura mir gemacht hat: Danke! Das andere Buch nennt sich „Holotropia: Die Verben der christlichen Familiarität“. Sie sollen uns helfen, unser Leben zu leben. Dieses Buch ist vor kurzem erschienen. Es ist von einem Biblisten, einem Schüler des Kardinales Martini. Er hat in Mailand gearbeitet, aber er ist aus der Diözese Albenga-Imperia.

 


[1] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1996, 316.

[2] Ebd. 317.

[3] Ansprache beim Ökumenischen und Interreligiösen Treffen mit den Jugendlichen, Skopje - Nordmazedonien (7. Mai 2019): L'Osservatore Romano (dt.), Jg. 49 (2019), Nr. 20/21 (17. Mai 2019), S. 10.

[4] »Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Diese Rede ist hart! Wer kann sie hören? Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß?« (Joh 6,60-61). Aber erst aus dieser Krise entstand dann das gläubige Bekenntnis: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68).

[5]Vgl.: Emanuel Levinas, Totalité et infini, Paris 2000, 76.

 



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