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ERÖFFNUNG DES 91. GERICHTSJAHRS
DES STAATES DER VATIKANSTADT
 

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS

Sala Regia
Samstag, 15. Februar 2020

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Sehr geehrte Herren!

Ich freue mich, euch zur Eröffnungszeremonie des Gerichtsjahres so zahlreich zu begegnen. Ich weiß, dass viele von euch in Einrichtungen tätig sind, denen die Justizverwaltung und der Schutz der öffentlichen Ordnung unterstellt sind. Gerade deshalb kommt eurer Arbeit großer Wert zu, denn sie garantiert nicht nur die Ordnung, sondern vor allem die Verantwortung für die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf unserem Staatsgebiet gelebt werden. Ich bitte euch, den Weg der Gerechtigkeit mit immer mehr Überzeugung fortzusetzen als den Weg, der echte Brüderlichkeit ermöglicht, in der alle geschützt sind, besonders die schwachen und verletzlichen Menschen.

Der erste Punkt, den ich bei dieser Begegnung hervorheben möchte, ist das Evangelium. Es lehrt uns einen tieferen Blick als das weltliche Denken, und es zeigt uns, dass die von Jesus angebotene Gerechtigkeit nicht einfach nur ein technisch angewandtes Regelwerk ist, sondern ein Herzenszustand, der jene leitet, die Verantwortung tragen. Die große Ermahnung des Evangeliums besteht darin, die Gerechtigkeit vor allem in uns selbst zu errichten und mit Nachdruck darum zu kämpfen, das Unkraut zu beseitigen, das sich in uns befindet. Für Jesus ist es naiv zu meinen, wir könnten jede Wurzel des Bösen in uns ausrotten, ohne auch den guten Weizen zu beschädigen (vgl. Mt 13,24-30). Die Wachsamkeit über uns selbst und der daraus folgende innere Kampf helfen uns jedoch, das Böse nicht die Oberhand über das Gute gewinnen zu lassen. Angesichts dieser Situation könnte keine Rechtsordnung uns retten. In diesem Sinne fordere ich einen jeden auf, sich nicht nur in eine äußerliche Tätigkeit, die die anderen betrifft, einbezogen zu fühlen, sondern auch in eine persönliche Arbeit, in einem jeden von uns stattfindet: unsere persönliche Umkehr. Nur das ist Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit erzeugt!

Es muss jedoch gesagt werden, dass Gerechtigkeit allein nicht genügt. Sie muss auch von den anderen Tugenden begleitet sein, vor allem von den Kardinaltugenden, die als Angelpunkt dienen: Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung. Denn die Klugheit befähigt uns, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, und sie gestattet uns, jedem das Seine zu geben. Die Mäßigung als Element der Zurückhaltung und der Ausgewogenheit in der Beurteilung von Tatsachen und Situationen macht uns frei, auf der Grundlage unseres Gewissens zu entscheiden. Die Tapferkeit gestattet uns, die Schwierigkeiten zu überwinden, denen wir begegnen, und Druck und Leidenschaften zu widerstehen. Insbesondere kann sie euch eine Hilfe sein in der Einsamkeit, die ihr oft erfahrt, wenn ihr schwierige und heikle Entscheidungen zu treffen habt. Bitte vergesst nicht, dass ihr bei eurer täglichen Arbeit oft Menschen gegenübersteht, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, leidenden Menschen, die manchmal in Ängsten und existentieller Verzweiflung gefangen sind.

Beim Richten müsst ihr richtige Antworten geben, indem ihr tief in die Komplexität des menschlichen Lebens eindringt und die Gesetzesordnung mit dem Mehr an Barmherzigkeit verbindet, das Jesus uns gelehrt hat. Denn die Barmherzigkeit ist nicht die Aufhebung der Gerechtigkeit, sondern ihre Erfüllung (vgl. Röm 13,8-10), weil sie alles in eine höhere Ordnung führt, wo auch jene, die zu den härtesten Strafen verurteilt sind, die Erlösung der Hoffnung finden. Das Richten ist eine Aufgabe, die nicht nur Vorbereitung und Ausgewogenheit verlangt, sondern auch Leidenschaft für die Gerechtigkeit und das Bewusstsein um die große und gebotene Verantwortung, die mit dem Urteil verbunden ist. Eure Aufgabe darf nicht das ständige Streben nach dem Verständnis der Ursachen für den Fehler und der Schwäche dessen, der das Gesetz gebrochen hat, vernachlässigen.

Ein zweiter Punkt unserer Reflexion über die Gerechtigkeit sind die Gesetze, die die zwischenmenschlichen Beziehungen und somit ihre Rechtmäßigkeit regeln, aber auch die ethischen Werte, die dahinterstehen. In diesem Zusammenhang hat die vatikanische Gesetzgebung vor allem im letzten Jahrzehnt und insbesondere im strafrechtlichen Bereich maßgebliche Reformen gegenüber der Vergangenheit durchgemacht. Grundlage dieser wichtigen Modifizierungen war nicht nur ein natürliches Modernisierungsbedürfnis, sondern auch und vor allem die Notwendigkeit, internationale Verpflichtungen einzuhalten, die der Heilige Stuhl auch im Namen des Vatikanstaats eingegangen ist. Diese Verpflichtungen betreffen vor allem den Schutz des Menschen, der in seiner Würde bedroht ist, sowie den Schutz jener gesellschaftlichen Gruppen, die oft Opfer neuer abscheulicher Formen der Rechtswidrigkeit sind.

Das Hauptziel dieser Reformen ist daher in die Sendung der Kirche einbezogen, ja es ist ein fester und wesentlicher Bestandteil ihres Dienstes. Das erklärt, warum der Heilige Stuhl sich dafür einsetzt, an den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um den Aufbau eines gerechten und aufrichtigen Zusammenlebens teilzuhaben – eines Zusammenlebens, das vor allem auf den Zustand der Benachteiligten und der Ausgegrenzten achtet, die wesentlicher Güter beraubt sind, deren Menschenwürde oft mit Füßen getreten wird und die als unsichtbar und weggeworfen betrachtet werden. Um dieses Bemühen konkret zu machen, hat der Heilige Stuhl einen Prozess zur Anpassung seiner Gesetzgebung an die internationalen Rechtsnormen in Gang gesetzt und sich auf operativer Ebene insbesondere dafür eingesetzt, illegale Machenschaften im Finanzsektor auf internationaler Ebene zu bekämpfen. Zu diesem Zweck hat er die Zusammenarbeit sowie gemeinsame politische Maßnahmen und Initiativen zur Bekämpfung gefördert und interne Überwachungs- und Handlungsgremien geschaffen, die in der Lage sind, strenge und wirksame Kontrollen durchzuführen.

Diese Tätigkeiten haben kürzlich verdächtige Finanzlagen ans Tageslicht gebracht, die sich – über ihre eventuelle Rechtswidrigkeit hinaus – schlecht mit dem Wesen und den Zielen der Kirche vertragen und die in der Gemeinschaft der Gläubigen Verwirrung und Unruhe erzeugt haben. Es handelt sich um Vorgänge, die der Staatsanwaltschaft übergeben worden sind und deren Strafrechtserheblichkeit noch geklärt werden muss. Man kann sich daher in dieser Phase nicht zu ihnen äußern. Positiv ist auf jeden Fall – das volle Vertrauen in die Arbeit der Rechts- und Ermittlungsorgane vorausgesetzt und unter Wahrung das Prinzips der Unschuldsvermutung gegenüber dem Beschuldigten –, dass gerade in diesem Fall die ersten Hinweise von internen Autoritäten des Vatikans ausgegangen sind, die im Bereich der Wirtschaft und Finanz tätig sind, wenngleich mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Das ist ein Beweis für die Zugkraft und die Effizienz der Bekämpfungsmaßnahmen, wie es von den internationalen Standards gefordert wird.

Der Heilige Stuhl ist fest entschlossen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen – nicht nur auf der Ebene der Gesetzesreformen, die zu einer grundlegenden Konsolidierung des Systems beigetragen haben, sondern auch, indem er neue Formen gerichtlicher Zusammenarbeit sowohl auf der Ebene der Ermittlungs- als auch der Untersuchungsorgane in Gang setzt, in den von den internationalen Normen und Praktiken vorgesehenen Formen. In diesem Bereich hat sich auch das Gendarmeriekorps durch seine Ermittlungstätigkeit zur Unterstützung des Amts des Kirchenanwalts ausgezeichnet. Es muss hervorgehoben werden, dass die im Laufe der Zeit eingeführten Reformen zwar anerkennenswert sind und konkrete Resultate hervorbringen, aber dennoch weiterhin im Handeln des Menschen verankert und von ihm abhängig sind.

Denn über die Besonderheit des ihm zur Verfügung stehenden Gesetzesmaterials hinaus muss jener, der in die richterliche Funktion berufen ist, immer in erster Linie nach menschlichen und nicht nur nach rechtlichen Kriterien handeln. Denn die Gerechtigkeit entspringt wie gesagt nicht so sehr der formalen Vollkommenheit des Systems und der Regeln, sondern vielmehr der Qualität und Aufrichtigkeit der Menschen, an erster Stelle der Richter. Es bedarf also einer besonderen Haltung der Mitarbeiter, nicht nur auf intellektueller, sondern auch auf moralischer und deontologischer Ebene. In diesem Sinne erfordert die Förderung der Gerechtigkeit den Beitrag von Seiten gerechter Menschen.

Hier können uns die anspruchsvollen und nachdrücklichen Worte Jesu helfen: »Nach dem Maß, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden« (vgl. Mt 7,2). Das Evangelium ruft uns in Erinnerung, dass am Horizont unseres Strebens nach irdischer Gerechtigkeit stets die endgültige Begegnung mit der göttlichen Gerechtigkeit steht – mit der Gerechtigkeit des Herrn, der uns erwartet. Diese Worte dürfen uns nicht erschrecken, sondern müssen uns nur anspornen, unsere Pflicht mit Ernst und Demut zu erfüllen.

Abschließend möchte ich euch ermutigen, die Verwirklichung eurer Berufung und wichtigen Sendung im täglichen Bemühen um die Herstellung der Gerechtigkeit fortzusetzen. Setzt euch ein im Bewusstsein um eure wichtige Verantwortung. Öffnet Räume und neue Wege, Gerechtigkeit herzustellen, um die Würde des Menschen, der Freiheit und letztlich des Friedens zu fördern. Ich bin mir sicher, dass ihr dieser Pflicht nachkommen werdet, und ich bete darum, dass der Herr euch auf diesem Weg begleiten möge. Und ich bitte euch, auch für mich zu beten. Danke. Und vor dem Segen wollen wir gemeinsam um den Schutz der Gottesmutter bitten: Sie möge uns beistehen als Mutter in dieser Tätigkeit, die der Gerechtigkeit dient. Gegrüßet seist du Maria, …

[Nach dem Gebet erteilte der Heilige Vater den Apostolischen Segen].

 



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