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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE BEAMTEN DES GERICHTS DER RÖMISCHEN ROTA
ZUR ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRES

Clementina-Saal
Freitag, 29. Januar 2021

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Liebe Brüder und Schwestern!

Ich müsste eigentlich im Stehen sprechen, aber ihr wisst, dass der Ischias ein etwas lästiger Gast ist. Ich bitte euch um Verzeihung und werde im Sitzen zu euch sprechen. Ich freue mich, euch anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres zu begegnen. Ich begrüße euch alle sehr herzlich: den Dekan, Prälat Pio Vito Pinto, dem ich für seine Worte danke, die Prälaten-Auditoren, die Beamten und Mitarbeiter des Gerichts der Römischen Rota.

Ich möchte an die Ansprache im vergangenen Jahr anknüpfen, insbesondere an das Thema, das einen großen Teil der Entscheidungen der Rota in jüngerer Zeit betrifft: einerseits ein Mangel an Glauben, der den Ehebund nicht so erleuchtet wie er sollte – das hatte bereits mein Vorgänger Benedikt XVI. dreimal öffentlich beklagt –; andererseits die grundlegenden Aspekte dieses Bundes, zu denen außer der Vereinigung von Mann und Frau auch die Geburt und das Geschenk der Kinder und ihr Aufwachsen gehören. Wir wissen, dass die Rechtsprechung der Römischen Rota, in Übereinstimmung mit dem päpstlichen Lehramt, die Hierarchie der Güter der Ehe erläutert und geklärt hat, dass die Gestalt des »bonum familiae« weit über den Bezug auf die Nichtigkeitsgründe hinausgeht – obgleich sich in der Vergangenheit ein gewisser Spalt auf einen hypothetischen Nichtigkeitsgrund in Verbindung mit dem »bonum familiae« geöffnet hatte.

Diese Möglichkeit wurde korrekterweise ausgeschlossen und so die theologische Gestalt der Familie gestärkt, als Auswirkung der vom Schöpfer vorgesehenen Ehe. Ich meinerseits habe die Empfehlung ausgesprochen, das »bonum familiae« nicht negativ zu betrachten, gleichsam als könne man es für einen Nichtigkeitsgrund halten. Denn es ist immer und in jedem Fall die gesegnete Frucht des Ehebundes; es kann durch die Nichtigkeitserklärung nicht »in toto« ausgelöscht werden. Denn das Familie-Sein kann nicht als aufgehobenes Gut betrachtet werden, da es Frucht des göttlichen Plans ist, zumindest für die gezeugte Nachkommenschaft. Die Eheleute mit den von Gott geschenkten Kindern sind jene neue Wirklichkeit, die wir »Familie« nennen. Angesichts einer Ehe, die rechtlich als nichtig erklärt wird, ist der Teil, der nicht bereit ist, diese Maßnahme anzunehmen, auf jeden Fall mit den Kindern ein »unum idem«. Daher ist es notwendig, die wichtige Frage zu berücksichtigen: Was wird aus den Kindern und aus dem Teil, der die Nichtigkeitserklärung nicht annimmt?

Bislang erschien alles selbstverständlich, aber leider ist es das nicht. Auf die grundsätzlichen Aussagen müssen daher angemessene konkrete Vorschläge folgen, wobei man stets daran denken muss, dass »die Familie die Grundlage der Gesellschaft und auch weiterhin die am besten geeignete Struktur ist, um den Menschen das für ihre beständige Entwicklung notwendige ganzheitliche Wohl zu gewährleisten« (Ansprache an die Föderation Katholischer Familienverbände (FAFCE), 1. Juni 2017). Folglich sind wir aufgerufen, den Weg zu finden, der zu Entscheidungen führt, die mit den anerkannten Grundsätzen übereinstimmen. Wir alle sind uns bewusst, wie schwer der Übergang von den Grundsätzen zu den Tatsachen ist. Wenn vom ganzheitlichen Wohl der Menschen die Rede ist, muss man sich fragen, wie dieses verwirklicht werden kann in den vielfältigen Situationen, in denen die Kinder sich befinden.

Der neue sakramentale Bund, der auf die Nichtigkeitserklärung folgt, wird gewiss eine Quelle des Friedens sein für den Ehepartner, der sie beantragt hat. Wie soll man aber den Kindern erklären, dass – zum Beispiel – ihre Mutter, die von ihrem Vater verlassen wurde und oft nicht die Absicht hat, einen anderen Ehebund zu schließen, mit ihnen die sonntägliche Eucharistie empfängt, während der Vater, der mit einer anderen Person zusammenlebt oder auf die Ehenichtigkeitserklärung wartet, nicht am eucharistischen Mahl teilnehmen kann? Anlässlich der Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode 2014 und in der Ordentlichen Vollversammlung 2015 haben die Synodenväter, die über das Thema der Familie nachdachten, sich diese Fragen gestellt und sich auch zu Bewusstsein geführt, dass es schwierig, ja manchmal sogar unmöglich ist, Antworten zu geben. Dennoch haben die Synodenväter und die mütterliche Fürsorge der Kirche gegenüber so vielen Leiden ein nützliches Werkzeug im Apostolischen Schreiben Amoris laetitia gefunden.

In diesem Dokument werden klare Weisungen gegeben, damit niemand, vor allem die Kleinen und die Leidenden, alleingelassen oder als Mittel der Erpressung zwischen getrennten Eltern behandelt werden (vgl. Apostolisches Schreiben Amoris laetitia, 241). Wie ihr wisst, wird am kommenden 19. März das »Jahr der Familie Amoris laetitia« beginnen. Auch ihr leistet mit eurer Arbeit einen wertvollen Beitrag zu diesem kirchlichen Weg mit den Familien für die Familie. Liebe Richter, in euren Urteilen versäumt ihr es nicht, dieses apostolische Streben der Kirche zu bezeugen, indem ihr berücksichtigt, dass das ganzheitliche Wohl des Menschen es erforderlich macht, nicht untätig zu bleiben angesichts der katastrophalen Auswirkungen, die eine Entscheidung über die Ehenichtigkeit mit sich bringen kann.

Von eurem Apostolischen Gerichtshof, ebenso wie von den anderen Gerichtshöfen der Kirche, wird verlangt, »die Verfahren zur Anerkennung der Nichtigkeit einer Ehe zugänglicher und schneller zu gestalten und möglicherweise ganz auf Gebühren zu verzichten« (ebd., 244). Die Kirche ist Mutter, und ihr, die ihr ein kirchliches Amt bekleidet, in einem so lebenswichtigen Bereich wie der Rechtsprechung, seid aufgerufen, euch zu öffnen gegenüber dieser schwierigen, aber nicht unmöglichen Pastoral, die die Sorge für die Kinder als unschuldige Opfer vieler Situationen des Bruchs, der Scheidung oder neuer Zivilehen betrifft (vgl. ebd., 245). Es geht darum, eure richterliche Sendung als einen Dienst auszuüben, der mit pastoralem Sinn erfüllt ist: Dieser darf bei der schwierigen Entscheidung darüber, ob ein Ehebund nichtig ist oder nicht, nie fehlen. Oft stellt man sich die Ehenichtigkeitserklärung als den kalten Akt einer reinen »Rechtsentscheidung« vor. Aber so ist es nicht, und so darf es nicht sein. Die Urteile des kirchlichen Richters dürfen nicht die Erinnerung außer Acht lassen, die Licht- und Schattenseiten hat, die ein Leben geprägt haben, nicht nur das der Eheleute, sondern auch das der Kinder.

Eheleute und Kinder bilden eine Gemeinschaft von Personen, die immer ganz gewiss mit dem Gut der Familie gleichgesetzt ist, auch wenn sie sich aufgelöst hat. Wir dürfen nicht müde werden, der Familie und der christlichen Ehe alle Aufmerksamkeit und Fürsorge zu widmen: Hier investiert ihr einen großen Teil eurer Sorge für das Wohl der Teilkirchen. Der Heilige Geist, den ihr vor jeder Entscheidung über die Wahrheit der Ehe anruft, möge euch erleuchten und euch helfen, die Auswirkungen jener Vorgänge nicht zu vergessen: vor allem das Wohl der Kinder, ihren Frieden oder im Gegenteil den Verlust der Freude angesichts der Trennung. Mögen das Gebet – die Richter müssen viel beten! – und das gemeinsame Bemühen diese oft schmerzliche menschliche Wirklichkeit hervorheben: eine Familie, die sich trennt, und eine andere, die infolgedessen entsteht, wodurch jene Einheit Schaden nimmt, die die Freude der Kinder in der vorherigen Verbindung ausmachte.

Ich ergreife diese Gelegenheit, um jeden Bischof – der von Christus als Vater, Hirte und Richter in der eigenen Kirche eingesetzt ist – zu ermahnen, sich immer mehr zu öffnen für die Herausforderung, die mit dieser Thematik verbunden ist. Es geht darum, mit Beharrlichkeit voranzugehen und einen notwendigen ekklesiologischen und pastoralen Weg zur Vollendung zu bringen, der darauf ausgerichtet ist, die Gläubigen, die unter nicht angenommenen und als schmerzlich empfundenen Urteilen leiden, nicht nur dem Handeln der zivilen Autoritäten zu überlassen. Die Phantasie der Nächstenliebe muss die dem Evangelium entsprechende Einfühlsamkeit gegenüber den Familientragödien fördern, deren Protagonisten nicht vergessen werden dürfen. Es ist dringend notwendig, dass die Mitarbeiter des Bischofs – insbesondere der Gerichtsvikar, die Mitarbeiter der Familienpastoral und vor allem die Pfarrer – sich bemühen, jene Diakonie des Schutzes, der Fürsorge und der Begleitung des verlassenen Ehepartners und gegebenenfalls der Kinder auszuüben, die unter den Entscheidungen über die Ehenichtigkeit, auch wenn diese richtig und rechtmäßig sind, leiden.

Das sind, liebe Schwestern und Brüder, die Gedanken, die ich eurer Aufmerksamkeit unterbreiten wollte, in der Gewissheit, in euch Menschen zu finden, die bereit sind, sie zu teilen und sich zu eigen zu machen. Ich bringe einem jeden meine besondere Dankbarkeit zum Ausdruck, im Vertrauen darauf, dass das Gericht der Römischen Rota, ein maßgeblicher Ausdruck der Rechtsweisheit der Kirche, auch weiterhin konsequent seinen nicht einfachen »munus« im Dienst des göttlichen Plans über Ehe und Familie ausüben möge. Indem ich die Gaben des Heiligen Geistes auf euch und auf eure Arbeit herabrufe, werde ich von Herzen den Apostolischen Segen erteilen. Und ich bitte auch euch, für mich zu beten. Und ich möchte heute nicht schließen ohne einen familiäreren Kommentar, unter uns, denn unser lieber Dekan wird in einigen Monaten 80 Jahre jung und wird uns verlassen müssen.

Ich möchte ihm danken für die Arbeit, die er getan hat und die nicht immer verstanden wurde. Vor allem möchte ich Prälat Pinto für jene Beharrlichkeit danken, mit der er die Reform der Eheprozesse vorangebracht hat: nur ein Urteil, dann der kürzere Prozess, der gleichsam eine Neuheit gewesen ist, aber natürlich war, weil der Bischof der Richter ist. Ich erinnere mich, dass mich kurz nach der Promulgation des kürzeren Prozesses ein Bischof angerufen und zu mir gesagt hat: »Ich habe folgendes Problem: Eine junge Frau möchte kirchlich heiraten; sie hat bereits vor einigen Jahren kirchlich geheiratet, aber sie wurde dazu gezwungen, weil sie schwanger war… Ich habe alles getan, ich habe einen Priester gebeten, als Gerichtsvikar zu fungieren, und einen anderen als Bandverteidiger… Und die Zeugen, die Eltern sagen ja, sie wurde gezwungen, jene Ehe sei nichtig. Sagen Sie mir, Heiligkeit, was soll ich tun?«, fragte mich der Bischof. Und ich fragte: »Sag mir, hast du einen Stift zur Hand?« – »Ja.« – »Unterzeichne. Du bist der Richter, ohne große Umschweife.«

Aber diese Reform, vor allem der kürzere Prozess, ist auf viele Widerstände gestoßen. Ich bekenne euch: Nach dieser Promulgation habe ich Briefe erhalten, sehr viele, ich weiß nicht, wie viele, aber es waren viele. Fast alles Anwälte, die ihre Kundschaft verloren. Und dort liegt das Problem mit dem Geld. In Spanien sagt man: »Por la plata baila el mono« – für Geld tanzt der Affe. Diese Redensart ist deutlich. Und auch das ist schmerzlich: Ich habe in einigen Diözesen den Widerstand einiger Gerichtsvikare gesehen, die durch diese Reform eine – ich weiß nicht – gewisse Macht verloren, weil sie merkten, dass nicht sie der Richter waren, sondern der Bischof. Ich danke Prälat Pinto für den Mut, den er hatte, und auch für die Strategie, diese Weise zu denken, zu urteilen voranzubringen, bis hin zum einstimmigen Votum, das mir die Möglichkeit gegeben hat, [das Dokument] zu unterzeichnen.

Die zwei gleichlautenden Urteile. Sie haben Papst Lambertini – Benedikt XIV. – erwähnt, einen großen Mann der Liturgie, des Kirchenrechts, des gesunden Menschenverstands, auch des Sinns für Humor, aber leider musste er aus wirtschaftlichen Gründen in einigen Diözesen die zwei gleichlautenden Urteile einführen. Aber kehren wir zur Wahrheit zurück: Der Richter ist der Bischof. Er muss vom Gerichtsvikar unterstützt werden, er muss vom Kirchenanwalt unterstützt werden, er muss unterstützt werden, aber er ist der Richter, er kann sich nicht heraushalten. Dahin zurückzukehren ist die Wahrheit des Evangeliums.

Und außerdem danke ich Prälat Pinto auch für seine Begeisterung, Katechesen zu diesem Thema zu halten. Er reist um die Welt und lehrt das: Er ist ein begeisterter Mann, aber begeistert in allen Tonlagen, denn er hat auch einen ganz schön aufbrausenden Charakter! Das ist eine negative Form – sagen wir es einmal so – der Begeisterung. Aber er wird Zeit haben, sich zu bessern… Wir alle haben sie! Ich möchte ihm danken! Ich interpretiere den Beifall als Beifall für den aufbrausenden Charakter. [Gelächter] Vielen Dank, Prälat Pinto! Danke! [Beifall]

 


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