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BENEDIKT XVI.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 8. Juni 2005

 

Lesung: Psalm 111,1–2.4–5.10

1 Ein Preislied auf die Wundertaten des Herrn Halleluja! Den Herrn will ich preisen von ganzem Herzen im Kreis der Frommen, inmitten der Gemeinde.
2 Groß sind die Werke des Herrn, kostbar allen, die sich an ihnen freuen.
4 Er hat ein Gedächtnis an seine Wunder gestiftet, der Herr ist gnädig und barmherzig.
5 Er gibt denen Speise, die ihn fürchten, an seinen Bund denkt er auf ewig.
10 Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit; / alle, die danach leben, sind klug. Sein Ruhm hat Bestand für immer.

 

Psalm 111:
„Groß sind die Werke des Herrn“

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Heute spüren wir den starken Wind. In der Heiligen Schrift ist der Wind Symbol des Heiligen Geistes. Hoffen wir, daß uns jetzt der Heilige Geist erleuchtet, wenn wir über den soeben gehörten Psalm 111 nachdenken. Bei diesem Psalm handelt es sich um ein Lob- und Danklied für die vielen Wohltaten, die Gott in seinen Wesenseigenschaften und seinem Heilswerk charakterisieren: Es ist die Rede von »Gnade« und »Barmherzigkeit«, von »Gerechtigkeit«, von seinen »machtvollen Taten«, von »Beständigkeit«, von »Wahrheit«, von »Redlichkeit«, von »Treue«, vom »Bund«, von »Werken«, von »Wundern«, sogar von »Speise«, die er gibt, und zum Schluß von seinem heiligen »Namen«, das heißt von seiner Person. Das Gebet ist somit Betrachtung des göttlichen Geheimnisses und der Wundertaten, die er in der Heilsgeschichte wirkt.

2. Der Psalm beginnt mit dem Verb »preisen«, das nicht nur aus dem Herzen des Beters, sondern auch aus der ganzen liturgischen Versammlung aufsteigt (vgl. V. 1). Der Gegenstand dieses Gebetes, das auch den Dankritus einschließt, wird durch das Wort »Werke« (vgl. V. 2 und 7) ausgedrückt. Sie verweisen auf das heilbringende Handeln des Herrn, die Kundgabe seiner »Gerechtigkeit « (V. 3); ein Terminus, der im Sprachgebrauch der Bibel vor allem auf die Liebe hinweist, die Heil bringt.

Deshalb verwandelt sich der Mittelpunkt des Psalms in einen Hymnus auf den Bund (V. 4–9), auf dieses enge Band, das Gott mit seinem Volk verbindet und das eine Reihe von Haltungen und Gesten umfaßt. So spricht man von »Gnade« und »Barmherzigkeit« (V. 4) gemäß der bedeutsamen Verkündigung auf dem Sinai: Der Herr »ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue« (Ex 34,6).

Mit »gnädig« ist die göttliche Gnade gemeint, die den Gläubigen umgibt und verwandelt, während das Wort »barmherzig« im hebräischen Original durch einen charakteristischen Terminus ausgedrückt wird, der auf den mütterlichen »Schoß« des Herrn verweist, der noch barmherziger ist als der einer Mutter (vgl. Jes 49,15).

3. Dieses Liebesband schließt das grundlegende Geschenk der Speise und folglich des Lebens mit ein (vgl. Ps 111,5), das dann in der christlichen Auslegung mit der Eucharistie identisch ist, wie der hl. Hieronymus betont: »Er gab das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist, zur Speise; wenn wir seiner würdig sind, dann ernähren wir uns davon!« (Breviarium in Psalmos, 110 [111]: PL XXVI, 1238–1239).

Weiter gibt es das Geschenk der Erde, »das Erbe der Völker« (Ps 111,6), das auf das bedeutende Ereignis des Exodus anspielt, als sich der Herr als Gott der Befreiung erwies. Die Synthese des mittleren Teils dieses Liedes ist also in dem Thema des besonderen Bundes zwischen dem Herrn und seinem Volk zu suchen, wie der Vers 9 kurz und bündig sagt: »Er … bestimmte seinen Bund für ewige Zeiten«.

4. Psalm 111 wird zum Schluß besiegelt von der Betrachtung des göttlichen Antlitzes, der Person des Herrn, die durch ihren heiligen und transzendenten »Namen« zum Ausdruck gebracht wird. Indem er dann einen Weisheitsspruch zitiert (vgl. Spr 1, 7; 9, 10; 15, 33), lädt der Psalmist jeden Gläubigen ein, die »Furcht des Herrn«, den Anfang der wahren Weisheit, zu pflegen (Ps 111,10). Hinter diesem Wort verbirgt sich nicht die Angst und der Schrecken, sondern die ernsthafte und aufrichtige Achtung, die Frucht der Liebe ist, die echte und eifrige Zustimmung zu Gott, dem Befreier. Und wenn das erste Wort des Liedes ein Dank war, dann ist das letzte ein Wort des Lobes: Wie seine heilbringende Gerechtigkeit »Bestand für immer« hat (V. 3), so kennt die Dankbarkeit des Beters keine Unterbrechung, sondern hat im Gebet »Bestand für immer« (V. 10). Zusammenfassend gesagt: Der Psalm lädt uns zum Schluß ein, die vielen Wohltaten zu entdecken, die uns der Herr täglich gewährt. Wir sehen eher die negativen Aspekte unseres Lebens. Der Psalm lädt uns ein, auch die positiven Dinge, die vielen Gaben zu sehen, die wir empfangen, und so dankbar zu werden, denn nur ein dankbares Herz kann die hohe Liturgie der Danksagung, die Eucharistie, würdig feiern.

5. Zum Abschluß unserer Reflexion wollen wir mit der kirchlichen Tradition der ersten christlichen Jahrhunderte den Schlußvers mit seiner bekannten Erklärung, die an anderer Stelle in der Bibel wiederholt wird (vgl. Spr 1,7), betrachten: »Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit« (Ps 111,10).

Der christliche Schriftsteller Barsanuphios von Gaza, der in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts lebte und wirkte, kommentiert ihn so: »Was ist der Anfang der Weisheit anderes, als daß man sich all dessen enthält, was für Gott abstoßend ist? Und wie kann man sich dessen enthalten, wenn man nicht vermeidet, irgendetwas zu tun, ohne um Rat gefragt zu haben, oder das zu sagen, was man nicht sagen darf, und wenn man sich selbst nicht für verrückt, töricht, verächtlich und für ein Nichts hält?« (Epistolario, 234: Collana di testi patristici, XVIII, Rom 1991, S. 265–266).

Johannes Cassianus, der zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert lebte, zog es jedoch vor, klarzustellen, daß »ein großer Unterschied besteht zwischen der Liebe, der es an nichts fehlt und die der Schatz der Weisheit und Wissenschaft ist, und der unvollkommenen Liebe, die als ›Anfang der Weisheit‹ bezeichnet wird; weil die unvollkommene Liebe den Gedanken an die Bestrafung enthält, wird sie durch den Einbruch der Fülle der Liebe vom Herzen der Vollkommenen ausgeschlossen« (Conferenze ai monaci, 2, 11, 13: Collana di testi patristici, CLVI, Rom 2000, S. 29). So wird auf unserem Lebensweg zu Christus die anfängliche unterwürfige Furcht durch eine vollkommene Furcht ersetzt, die Liebe und ein Geschenk des Heiligen Geistes ist.


Die Werke des Herrn erwecken den Lobpreis der Gläubigen. Das Geheimnis der göttlichen Liebe betrachtend, folgt der Beter von Psalm 111 den Spuren des Allmächtigen und hält staunend inne vor den Wundern seiner Schöpfung. Ehrfurcht und Anbetung sind die richtige Antwort auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit, von denen die ganze Heilsgeschichte redet. Ergriffen von der unermeßlichen Liebe des Herrn erkennt der gottesfürchtige Mensch, daß der Schöpfer, einem unendlich guten und gerechten Vater gleich, für die Seinen sorgt: „Er gibt denen Speise, die ihn fürchten, an seinen Bund denkt er auf ewig“ (V. 5).

Die Kirchenväter betonen, daß auch die Gottesfurcht der Läuterung bedarf. „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit“ (V. 10). Die anfängliche Liebe ist unvollkommen, da sie noch den Gedanken an die Strafe enthält, erklärt der frühchristliche Autor Johannes Cassianus. Die vollkommene gottesfürchtige Liebe ist eine Gabe des Heiligen Geistes, die wir täglich neu erbeten.

***

Ganz herzlich heiße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher willkommen. Mein besonderer Gruß gilt heute den Teilnehmern an der Abschlußtagung des „Kölner Gemeinschaftskommentars zur Europäischen Grundrechte-Charta“. Wir alle schulden Gott täglich Lob und Dank für seine Wohltaten. Antwortet auf die Güte des Herrn mit euren guten Worten und Werken! Der Friede Christi geleite euch auf allen Wegen.

 

 



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