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BOTSCHAFT DES HEILIGEN VATERS
BENEDIKT XVI. ZUM WELTTAG
DES MIGRANTEN UND FLÜCHTLINGS (2012)

"Migrationen und Neuevangelisierung"

 

 

Liebe Brüder und Schwestern!

Jesus Christus, den einzigen Retter der Welt, zu verkünden, ist »die wesentliche Sendung der Kirche …, eine Aufgabe und Sendung, die die umfassenden und tiefgreifenden Veränderungen der augenblicklichen Gesellschaft nur noch dringender machen« (Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 14). Heute spüren wir sogar die dringende Notwendigkeit, mit neuer Kraft und in erneuerter Weise die Evangelisierungstätigkeit zu fördern, in einer Welt, in der die Aufhebung von Grenzen und die neuen Prozesse der Globalisierung die Personen und Völker einander noch stärker annähern, sowohl durch die Entwicklung der Kommunikationsmittel als auch durch die Häufigkeit und Leichtigkeit, mit denen einzelnen und Gruppen ein Ortwechsel ermöglicht wird. In dieser neuen Situation müssen wir in jedem von uns die Begeisterung und den Mut, die die ersten christlichen Gemeinden bewegt haben, die Neuheit des Evangeliums furchtlos zu verkünden, neu erwecken, indem wir in unserem Herzen die Worte des hl. Paulus widerhallen lassen: »Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, dann kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16).

Das Thema, das ich in diesem Jahr für den Welttag des Migranten und Flüchtlings gewählt habe – »Migrationen und Neuevangelisierung« – entsteht aus dieser Wirklichkeit heraus. Denn die gegenwärtige Stunde ruft die Kirche auf, eine Neuevangelisierung durchzuführen, auch innerhalb des weiten und komplexen Phänomens der menschlichen Mobilität, und die Missionstätigkeit zu verstärken, sowohl in den Gebieten der Erstverkündigung als auch in den Ländern christlicher Tradition.

Der sel. Johannes Paul II. lädt uns ein, »uns vom Wort [zu] nähren, um im Bemühen um die Evangelisierung ›Diener des Wortes zu sein‹ …, [in einer Situation], die im Zusammenhang mit der Globalisierung und der neuen gegenseitigen Verflechtung von Völkern und Kulturen, die sie mit sich bringt, immer vielfältiger und anspruchsvoller wird« (Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte, 40). Denn die innerstaatlichen und internationalen Migrationen – auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen oder um vor der Bedrohung durch Verfolgungen, Kriegen, Gewalt, Hunger und Naturkatastrophen zu fliehen – haben zu einer nie dagewesenen Mischung von Personen und Völkern geführt, mit neuen Problematiken nicht nur vom menschlichen, sondern auch vom ethischen, religiösen und geistlichen Gesichtspunkt her. Die gegenwärtigen offensichtlichen Folgen der Säkularisierung, das Aufkommen neuer sektiererischer Bewegungen, eine weitverbreitete Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben, eine deutliche Tendenz zur Zersplitterung machen es schwer, einen gemeinsamen Bezugspunkt ins Auge zu fassen, der dazu ermutigt, »eine einzige Menschheitsfamilie« zu bilden, »eine einzige Familie von Brüdern und Schwestern in Gesellschaften, die immer multiethnischer und interkultureller werden, wo auch die Personen unterschiedlicher Religion zum Dialog geführt werden, um zu einem friedlichen und fruchtbaren Zusammenleben zu gelangen, unter Achtung der legitimen Unterschiede«, wie ich im vergangenen Jahr in der Botschaft zu diesem Welttag geschrieben habe. Unsere Zeit ist geprägt von Versuchen, Gott und die Lehre der Kirche aus dem Horizont des Lebens zu entfernen, während Zweifel, Skepsis und Gleichgültigkeit sich breitmachen, die sogar jegliche gesellschaftliche und symbolische Sichtbarkeit des christlichen Glaubens auslöschen möchten.

In diesem Zusammenhang werden die Migranten, die Christus kennengelernt und ihn angenommen haben, nicht selten dahin gebracht, ihn im eigenen Leben als nicht mehr relevant zu betrachten, den Sinn für den Glauben zu verlieren, sich nicht mehr als Teil der Kirche zu verstehen, und oft führen sie ein Leben, das nicht mehr von Christus und von seinem Evangelium geprägt ist. In Völkern aufgewachsen, die vom christlichen Glauben geprägt sind, wandern sie oft in Länder aus, in denen die Christen in der Minderheit sind oder wo die überkommene Glaubenstradition keine persönliche Überzeugung und kein gemeinsames Bekenntnis mehr ist, sondern zu einem kulturellen Faktor reduziert wurde. Hier steht die Kirche vor der Herausforderung, den Migranten zu helfen, am Glauben festzuhalten, selbst wenn der kulturelle Halt fehlt, der in der Heimat vorhanden war, auch durch die Auffindung immer neuer pastoraler Strategien sowie von Methoden und Sprachen für eine stets lebendige Annahme des Wortes Gottes. In einigen Fällen handelt es sich um eine Gelegenheit zu verkünden, daß die Menschheit in Jesus Christus des Geheimnisses Gottes und seines Lebens der Liebe teilhaftig und auf einen Horizont der Hoffnung und des Friedens hin geöffnet wird, auch durch den respektvollen Dialog und das konkrete Zeugnis der Solidarität. In anderen Fällen wiederum gibt es die Möglichkeit, das eingeschlafene christliche Gewissen durch eine erneuerte Verkündigung der Frohbotschaft und ein konsequenteres christliches Leben zu wecken, um die Schönheit der Begegnung mit Christus wiederzuentdecken, der den Christen zur Heiligkeit beruft, wo immer er sich befindet, auch in der Fremde.

Das gegenwärtige Migrationsphänomen ist auch eine von der Vorsehung geschenkte Gelegenheit für die Verkündigung des Evangeliums in der heutigen Welt. Männer und Frauen aus verschiedenen Teilen der Erde, die Jesus Christus noch nicht begegnet sind oder ihn nur bruchstückhaft kennen, bitten in Ländern alter christlicher Tradition um Aufnahme. Ihnen gegenüber müssen angemessene Wege gefunden werden, damit sie Jesus Christus begegnen und kennenlernen und das unschätzbare Geschenk des Heils erfahren können, das für alle Menschen Quelle des »Lebens in Fülle« ist (vgl. Joh 10,10). Den Migranten kommt in diesem Zusammenhang eine wertvolle Rolle zu, denn sie können »selbst Verkündiger des Wortes Gottes und Zeugen des auferstandenen Jesus, der Hoffnung der Welt, werden« (Apostolisches Schreiben Verbum Domini, 105).

Auf dem anspruchsvollen Weg der Neuevangelisierung kommt im Umfeld der Migranten den Mitarbeitern in der Pastoral – Priestern, Ordensleuten und Laien –, deren Arbeit immer mehr in einem pluralistischen Kontext stattfindet, eine entscheidende Rolle zu: Ich lade sie ein, in Gemeinschaft mit ihren Ortsbischöfen und aus dem Lehramt der Kirche schöpfend Wege des brüderlichen Miteinanders und der respektvollen Verkündigung zu suchen und Gegensätze und Nationalismen zu überwinden. Die Kirchen der Ursprungsländer, der Durchzugsländer und der Aufnahmeländer der Migrationsströme sollten ihrerseits ihre Zusammenarbeit vertiefen, zum Nutzen der Aufbrechenden ebenso wie der Ankommenden und in jedem Fall derer, die auf ihrem Weg der Begegnung mit dem erbarmenden Antlitz Christi in der Aufnahme des Nächsten bedürfen. Zur Umsetzung einer fruchtbringenden Pastoral der Gemeinschaft kann es nützlich sein, die traditionellen Hilfsstrukturen für Migranten und Flüchtlinge zu erneuern und ihnen Modelle zur Seite zu stellen, die den veränderten Situationen, in denen unterschiedliche Kulturen und Völker miteinander leben und handeln, besser entsprechen.

Die Flüchtlinge, die um Asyl bitten und vor Verfolgung, Gewalt und lebensbedrohlichen Situationen geflohen sind, brauchen unser Verständnis und unsere Aufnahmebereitschaft, die Achtung ihrer Menschenwürde und ihrer Rechte, und sie müssen sich auch ihrer Pflichten bewußt sein. Ihr Leiden ruft die einzelnen Staaten und die internationale Gemeinschaft auf, eine Haltung gegenseitiger Annahme einzunehmen, Ängste zu überwinden und Diskriminierungen zu vermeiden sowie für eine konkrete Umsetzung der Solidarität zu sorgen, auch durch geeignete Aufnahmestrukturen und Umsiedlungspläne. All das beinhaltet auch die gegenseitige Hilfe zwischen den leidgeplagten Regionen und denen, die schon jahrelang zahlreiche Menschen auf der Flucht aufnehmen, sowie die Übernahme größerer gemeinsamer Verantwortung von seiten der Staaten.

Der Presse und den anderen Kommunikationsmitteln kommt die wichtige Aufgabe zu, korrekt, objektiv und aufrichtig über die Situation derer zu berichten, die gezwungen waren, ihre Heimat und ihre Angehörigen zu verlassen, und beginnen möchten, eine neue Existenz aufzubauen.

Die christlichen Gemeinden sollen den Arbeitsmigranten und ihren Familien besondere Aufmerksamkeit entgegenbringen, durch die Begleitung in Gebet, Solidarität und christlicher Nächstenliebe; durch die Wertschätzung dessen, was der gegenseitigen Bereicherung dient; und durch die Unterstützung neuer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Projekte, die die Achtung der Würde jeder menschlichen Person, den Schutz der Familie, den Zugang zu angemessener Unterbringung, zu Arbeit und Hilfeleistungen fördern.

Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen, Laien und vor allem junge Männer und Frauen sollen gegenüber den vielen Schwestern und Brüdern, die vor der Gewalt geflohen sind und neuen Lebensstilen und Integrationsschwierigkeiten gegenüberstehen, Einfühlsamkeit zeigen und ihnen Unterstützung anbieten. Die Verkündigung des Heils in Jesus Christus soll Quelle der Erleichterung, der Hoffnung und der »vollkommenen Freude« sein (vgl. Joh 15,11).

Abschließend möchte ich an die Situation zahlreicher internationaler Studenten erinnern, die mit Eingliederungsproblemen, bürokratischen Schwierigkeiten und Beschwernissen auf der Suche nach Unterkunft und Begegnungsstätten konfrontiert sind. Die christlichen Gemeinden sollten besonders einfühlsam sein gegenüber den vielen jungen Männern und Frauen, die aufgrund ihres jugendlichen Alters nicht nur kulturelles Wachstum, sondern darüber hinaus auch Bezugspunkte brauchen, und die in ihrem Herzen ein tiefes Verlangen nach der Wahrheit hegen und den Wunsch haben, Gott zu begegnen. Insbesondere die christlich orientierten Universitäten sollen Orte des Zeugnisses sein, von denen die Neuevangelisierung ausstrahlt. Sie sollten sich ernsthaft darum bemühen, im akademischen Bereich zum sozialen, kulturellen und menschlichen Fortschritt beizutragen und darüber hinaus den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern und dem Beitrag, den die internationalen Studenten leisten können, Wertschätzung entgegenzubringen. Wenn sie echten Zeugen des Evangeliums und Vorbildern christlichen Lebens begegnen, wird es sie anspornen, selbst zu Handlungsträgern der Neuevangelisierung zu werden.

Liebe Freunde, bitten wir um die Fürsprache Marias, »Unsere Liebe Frau vom Weg«, auf daß die freudige Verkündigung des Heils Jesu Christi Hoffnung bringe in die Herzen derer, die auf den Straßen der Welt unterwegs sind. Allen sichere ich mein Gebet zu und erteile ihnen den Apostolischen Segen.

Aus dem Vatikan, am 21. September 2011

                               

BENEDICTUS PP. XVI

 

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