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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DIE TEILNEHMER DER VOM PÄPSTLICHEN RAT FÜR DIE INTERPRETATION VON GESETZESTEXTEN VERANSTALTETEN STUDIENTAGUNG ANLÄSSLICH DES 25. JAHRESTAGES DER PROMULGATION DES CODEX DES KANONISCHEN RECHTS

Freitag, 25. Januar 2008

 

Meine Herren Kardinäle,
verehrte Brüder im Bischofs- und im Priesteramt,
sehr geehrte Professoren und Fachleute des kanonischen Rechts!

Mit aufrichtiger Freude nehme ich an diesem abschließenden Moment der vom Päpstlichen Rat für die Interpretation von Gesetzestexten veranstalteten Studientagung anläßlich des 25. Jahrestages der Promulgation des Codex des kanonischen Rechtes teil. Ihr habt Überlegungen angestellt zum Thema »Das kanonische Recht im Leben der Kirche: Untersuchung und Perspektiven im Zeichen des päpstlichen Lehramtes der jüngeren Zeit.« Ich begrüße jeden von euch sehr herzlich, insbesondere den Präsidenten des Päpstlichen Rates, Erzbischof Francesco Coccopalmerio, dem ich für die freundlichen Worte, die er in eurem Namen an mich gerichtet hat, sowie für die Überlegungen zum Codex und zum Recht in der Kirche danke. Gleichfalls gilt mein Dank dem gesamten Päpstlichen Rat, den Mitgliedern und Konsultoren, für ihre wertvolle Mitarbeit mit dem Papst im kirchenrechtlichen Bereich: Das Dikasterium wacht über die Vollständigkeit und die Aktualisierung der Gesetzgebung der Kirche und gewährleistet ihre Widerspruchsfreiheit. Ich erinnere mich gern und mit aufrichtiger Freude und Dankbarkeit gegenüber dem Herrn daran, daß auch ich zur Abfassung des Codex beigetragen habe: Als ich Metropolitan-Erzbischof von München und Freising war, wurde ich vom Diener Gottes Johannes Paul II. zum Mitglied der Kommission für die Revision des Codex des kanonischen Rechtes ernannt, bei dessen Promulgation am 26. Januar 1983 ich dann auch anwesend war.

Die Tagung anläßlich dieses bedeutsamen Jahrestages ist einem Thema gewidmet, das von großem Interesse ist, da es die enge Verbindung betont, die zwischen dem kanonischen Recht und dem Leben der Kirche nach dem Willen Jesu Christi besteht. Ich möchte daher bei dieser Gelegenheit noch einmal einen grundlegenden Gedanken hervorheben, der für das Kirchenrecht bezeichnend ist. Das »ius ecclesiae« ist nicht nur eine Ansammlung von Normen, die vom kirchlichen Gesetzgeber für dieses besondere Volk, die Kirche Christi, erlassen wurden. Es ist in erster Linie die von seiten des kirchlichen Gesetzgebers vorgenommene maßgebliche Erklärung der Pflichten und der Rechte, die in den Sakramenten gründen und die somit aus der Einsetzung durch Christus selbst entstanden sind. Dieses Gefüge juristischer Realitäten, das vom Codex aufgezeigt wird, setzt sich zusammen zu einem wunderbaren Mosaik, das das Antlitz aller Gläubigen, Laien und Hirten, und aller Gemeinschaften, von der Universalkirche bis hin zu den Teilkirchen, abbildet. Ich möchte an dieser Stelle das wirklich einprägsame Wort des sel. Antonio Rosmini in Erinnerung rufen: »Die menschliche Person ist das Wesen des Rechts« (A. Rosmini, Filosofia del diritto, Teil 1, 1. Bd., Kap. 3). Das, was dieser große Philosoph mit tiefer Intuition über das menschliche Recht sagte, müssen wir um so mehr für das kanonische Recht bekräftigen: Das Wesen des kanonischen Rechts ist die Person des Christen in der Kirche.

Der Codex des kanonischen Rechtes enthält auch die vom kirchlichen Gesetzgeber erlassenen Normen für das Wohl der Person und der Gemeinschaften im ganzen mystischen Leib, der die heilige Kirche ist. Wie mein geliebter Vorgänger Johannes Paul II. bei der Promulgation des Codex des kanonischen Rechtes am 25. Januar 1983 sagte, ist die Kirche nach Art eines sozialen und sichtbaren Gefüges gestaltet; als solches »braucht sie Normen, Gesetze, damit ihre hierarchische und organische Struktur sichtbar wird; damit die Ausübung der ihr von Gott übertragenen Ämter und Aufgaben, insbesondere die der kirchlichen Gewalt und der Verwaltung der Sakramente, ordnungsgemäß wahrgenommen wird; damit die gegenseitigen Beziehungen der Gläubigen in einer auf Liebe fußenden Gerechtigkeit gestaltet werden, wobei die Rechte der einzelnen gewährleistet und festgesetzt sind; damit schließlich die gemeinsamen Initiativen, die unternommen werden, um das christliche Leben immer vollkommener zu führen, durch die kanonischen Bestimmungen unterstützt, gestärkt und gefördert werden« (Apost. Konst. Sacrae disciplinae leges). Auf diese Weise erkennt die Kirche ihren Gesetzen eine zweckgerichtete und pastorale Natur und Funktion zu – um das ihr eigene Ziel zu verfolgen, das bekanntlich die Erlangung der »salus animarum« ist. »So zeigt sich das kanonische Recht verbunden mit dem Wesen der Kirche selbst; es bildet eine Einheit mit ihm zum Zweck der richtigen Ausübung des ›munus pastorale‹« (Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des internationalen Symposiums über das kanonische Recht, 23. April 1993; in O.R. dt., Nr. 23, 11.6.1993, S. 8).

Damit das Kirchenrecht diesen wertvollen Dienst leisten kann, muß es vor allem ein gut strukturiertes Recht sein. Es muß also einerseits an jene theologische Grundlage gebunden sein, die ihm Berechtigung verleiht und die der wesentliche Rechtsgrund kirchlicher Legitimität ist; andererseits muß es den sich wandelnden Gegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit des Gottesvolkes entsprechen. Außerdem muß es klar formuliert werden, ohne Doppeldeutigkeiten und stets im Einklang mit den übrigen Gesetzen der Kirche. Daher müssen überholte Normen aufgehoben und korrekturbedürftige modifiziert werden. Kontroverse Normen müssen im Licht des lebendigen Lehramtes der Kirche interpretiert und letztlich eventuelle »lacunae legis« geschlossen werden. Wie Papst Johannes Paul II. zur Römischen Rota sagte, »sind alle die zahlreichen Formen jener Flexibilität vor Augen zu halten und anzuwenden, die gerade aus pastoralen Gründen das Kirchenrecht schon immer ausgezeichnet haben« (Ansprache an den Gerichtshof der Rota Romana zur Eröffnung des Gerichtsjahres, 18. Januar 1990; in O.R. dt., Nr. 5, 2.2.1990, S. 9–10). Eure Aufgabe im Päpstlichen Rat für die Interpretation von Gesetzestexten ist es, darüber zu wachen, daß die Arbeit der verschiedenen Instanzen, die in der Kirche berufen sind, Normen für die Gläubigen zu erlassen, als Ganzes stets die der Kirche eigene Einheit und Gemeinschaft widerspiegelt.

Da das Kirchenrecht die Regel absteckt, die notwendig ist, damit das Gottesvolk sich effektiv auf sein Ziel hin ausrichten kann, versteht man, warum es wichtig ist, daß dieses Recht von allen Gläubigen geliebt und beachtet wird. Das Gesetz der Kirche ist vor allem »lex libertatis«: ein Gesetz, das frei macht, um Jesus nachzufolgen. Daher ist es notwendig, dem Gottesvolk, den jungen Generationen und denen, die berufen sind, dem Kirchenrecht Beachtung zu verleihen, seine konkrete Verbindung mit dem Leben der Kirche aufzuzeigen: zur Wahrung der heiklen Belange der Dinge Gottes, zum Schutz der Rechte der Schwächsten, derer, die keine anderen Kräfte haben, um sich Geltung zu verschaffen, aber auch zur Verteidigung jener besonderen »Güter«, die jeder Gläubige unentgeltlich empfangen hat – das Geschenk des Glaubens, der Gnade Gottes vor allem – und die in der Kirche nicht ohne angemessenen Schutz von seiten des Rechts bleiben können.

Innerhalb des soeben beschriebenen komplexen Rahmens ist der Päpstliche Rat für die Interpretation von Gesetzestexten berufen, dem römischen Papst, dem obersten Gesetzgeber, bei seiner Aufgabe als vorrangiger Förderer, Garant und Ausleger des Rechts in der Kirche zu helfen. Bei der Erfüllung dieser wichtigen Pflicht könnt ihr außer auf das Vertrauen auch auf das Gebet des Papstes zählen, der eure Arbeit mit seinem herzlichen Segen begleitet.

 



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