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BESUCH IM PÄPSTLICHEN RÖMISCHEN PRIESTERSEMINAR
ANLÄSSLICH DES FESTES DER GOTTESMUTTER VOM VERTRAUEN

"LECTIO DIVINA" MIT DEM SEMINARISTEN

ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.

Seminarkapelle
Freitag
, 12. Februar 2010

 

Eminenz, Exzellenzen, liebe Freunde!

Jedes Jahr ist es für mich eine große Freude, mit den Seminaristen der Diözese Rom zusammenzusein, mit den jungen Männern, die sich darauf vorbereiten, auf den Ruf des Herrn zu antworten, um Arbeiter in seinem Weinberg, Priester seines Geheimnisses zu sein Es bereitet Freude zu sehen, daß die Kirche lebt, daß die Zukunft der Kirche auch in unseren Gegenden gegenwärtig ist, gerade auch in Rom.

Im derzeitigen Priester-Jahr wollen wir besonders auf die Worte des Herrn achten, die unseren Dienst betreffen. Der soeben verlesene Abschnitt aus dem Evangelium spricht indirekt aber eingehend über unser Sakrament, über unsere Berufung, im Weinberg des Herrn Diener seines Geheimnisses zu sein.

In diesem kurzen Abschnitt finden wir einige Schlüsselworte, welche die vom Herrn durch diesen Text beabsichtigte Verkündigung aufzeigen. »Bleiben«: in diesem kurzen Abschnitt finden wir zehn Mal das Wort »bleiben«; dann das neue Gebot: »Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe«, »Keine Knechte mehr, sondern Freunde«, »bringt Frucht«; und schließlich: »Bittet, betet, und euch wird gegeben werden, euch wird die Freude gegeben werden.« Bitten wir den Herrn, daß er uns helfe, in den Sinn seiner Worte einzutreten, damit diese Worte unser Herz durchdringen und so Weg und Leben in uns, mit uns und durch uns sein können.

Das erste Wort lautet: »Bleibt in mir, in meiner Liebe!« Das Bleiben im Herrn ist das grundlegende, erste Thema dieses Abschnittes. Wo sollen wir bleiben? In der Liebe, in der Liebe Christi, im Geliebtsein und im Lieben des Herrn. Das gesamte 15. Kapitel konkretisiert den Ort unseres Bleibens, insofern die ersten acht Verse das Gleichnis vom Weinstock darlegen und vorstellen: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.« Der Weinstock ist ein alttestamentliches Bild, das sich sowohl bei den Propheten als auch in den Psalmen findet und eine zweifache Bedeutung hat: es ist ein Gleichnis für das Volk Gottes, das sein Weinberg ist. Er hat in dieser Welt einen Weinstock gepflanzt, er hat diesen Weinstock gepflegt, er hat seinen Weinberg gepflegt, er hat diesen seinen Weinberg geschützt, und mit welcher Absicht? Natürlich mit der Absicht, Früchte zu finden, das kostbare Geschenk der Trauben, des guten Weins.

Und so tritt die zweite Bedeutung hervor: Der Wein ist Symbol und Ausdruck der Freude über die Liebe. Der Herr hat sein Volk geschaffen, um die Antwort auf seine Liebe zu finden, und so hat dieses Bild vom Weinstock, vom Weinberg, eine bräutliche Bedeutung; es ist Ausdruck der Tatsache, daß Gott die Liebe seines Geschöpfes sucht, durch sein von ihm erwähltes Volk in eine Liebesbeziehung, in eine bräutliche Beziehung mit der Welt treten will.

Doch die konkrete Geschichte ist eine Geschichte der Untreue: Statt kostbare Trauben werden nur kleine »ungenießbare Dinge« hervorgebracht. Es wird nicht auf diese große Liebe geantwortet, diese Einheit, diese bedingungslose Vereinigung zwischen Mensch und Gott in der Gemeinschaft der Liebe kommt nicht zustande. Der Mensch zieht sich in sich selbst zurück, er will sich nur für sich selbst haben, er will Gott für sich haben, er will die Welt für sich haben. Und so wird der Weinberg verwüstet, der Eber aus dem Wald, alle Feinde kommen, und der Weinberg wird zu einer Wüste.

Gott jedoch gibt nicht auf: Gott findet eine neue Weise, um zu einer freien und unwiderruflichen Liebe zu gelangen, zur Frucht einer derartigen Liebe, zu den wahren Trauben: Gott wird Mensch, und so wird er selbst zur Wurzel des Weinstocks, er selbst wird zum Weinstock, und so wird der Weinstock unzerstörbar. Dieses Volk Gottes kann nicht zerstört werden, da Gott selbst in es eingetreten ist, sich in diesen Boden eingepflanzt hat. Das neue Volk Gottes ist wirklich in Gott selbst gegründet, der Mensch wird und der uns auf diese Weise dazu beruft, in ihm der neue Weinstock zu sein. Er beruft uns, in ihm zu sein, in ihm zu bleiben.

Halten wir des weiteren fest, daß wir im 6. Kapitel des Johannesevangeliums die Rede über das Brot finden, die zur großen Rede über das eucharistische Geheimnis wird. Hier im 15. Kapitel haben wir die Rede über den Wein: Der Herr spricht nicht ausdrücklich von der Eucharistie, doch steht natürlich hinter dem Geheimnis des Weines die Wirklichkeit, daß er für uns zur Frucht und zum Wein geworden ist, daß sein Blut die Frucht der Liebe ist, die für immer aus der Erde hervorgeht, und daß in der Eucharistie sein Blut zu unserem Blut wird, daß wir neu werden, eine neue Identität empfangen, da das Blut Christi unser Blut wird. So sind wir im Sohn mit Gott verwandt, und in der Eucharistie verwirklicht sich diese große Wirklichkeit des Weinstockes, in der wir Reben sind, die mit dem Sohn und so mit der ewigen Liebe vereint sind.

»Bleibt«: in diesem großen Geheimnis bleiben, in diesem neuen Geschenk des Herrn bleiben, der uns zum Volk in sich selbst gemacht hat, in seinem Leib und mit seinem Blut. Es scheint mir, daß wir viel über dieses große Geheimnis nachdenken müssen, das heißt, daß Gott selbst zum Leib wird, eins mit uns; Blut, eins mit uns; daß wir, indem wir in diesem Geheimnis bleiben, in der Gemeinschaft mit Gott selbst bleiben können, in dieser großen Liebesgeschichte, welche die Geschichte des wahren Glücks ist. Während wir dieses Geschenk betrachten – Gott ist mit uns allen eins geworden und vereint uns untereinander, er macht aus uns einen Weinstock –, müssen wir auch zu beten beginnen, daß dieses Geheimnis immer mehr in unseren Geist eindringt, in unser Herz, und daß wir immer mehr fähig sind, die Größe des Geheimnisses zu sehen und zu leben und so beginnen, diesen Imperativ zu verwirklichen: »Bleibt!«

Wenn wir in diesem Abschnitt aus dem Evangelium des Johannes aufmerksam weiterlesen, so finden wir außerdem einen zweiten Imperativ: »Bleibt« und »Haltet meine Gebote«. »Haltet meine Gebote« ist nur die zweite Ebene; die erste ist die des »Bleibens«, die ontologische Ebene, das heißt: daß wir mit ihm vereint sind, der uns sich selbst im Vorhinein gegeben hat, der uns als Frucht seine Liebe gegeben hat. Nicht wir müssen die große Frucht hervorbringen; das Christentum ist kein Moralismus, nicht wir müssen das tun, was Gott sich von der Welt erwartet, sondern wir müssen vor allem in dieses ontologische Geheimnis eintreten: Gott gibt sich selbst. Sein Sein, sein Lieben geht unserem Handeln voraus, und im Kontext seines Leibes, im Kontext des Bei-ihm-Seins, des Einsseins mit ihm, geadelt durch sein Blut, können auch wir mit Christus handeln.

Die Ethik ist eine Folge des Seins: zuerst gibt uns der Herr ein neues Sein, das ist das große Geschenk; das Sein geht dem Handeln voraus, und diesem Sein folgt dann das Handeln, gleichsam eine organische Wirklichkeit, da wir das, was wir sind, auch in unserem Tun sein können. Und so danken wir dem Herrn, da er uns vom reinen Moralismus befreit hat; wir sollen keinem Gesetz gehorchen, das einfach vor uns steht, sondern wir müssen allein entsprechend unserer Identität handeln. Somit handelt es sich nicht mehr um einen Gehorsam, um etwas Äußeres, sondern um eine Verwirklichung des Geschenks des neuen Seins.

Ich sage es noch einmal: Danken wir Gott, daß er uns vorangeht und uns das gibt, was wir geben müssen, und wir können dann in der Wahrheit und in der Kraft unseres neuen Seins Handelnde in seiner Wirklichkeit sein. Bleiben und die Gebote halten: das Halten der Gebote ist ein Zeichen des Bleibens, und das Bleiben ist das Geschenk, das er uns gibt, das jedoch jeden Tag unseres Lebens erneuert werden muß.

Es folgt dann dieses neue Gebot: »Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.« Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer »sein Leben für seine Freunde hingibt«. Was heißt das? Auch hier geht es um keinen Moralismus. Man könnte sagen: »Das ist kein neues Gebot; das Gebot, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, gibt es bereits im Alten Testament.« Einige sagen: »Eine derartige Liebe muß noch mehr radikalisiert werden, diese Liebe zum anderen muß Christus nach - ahmen, der sich für uns hingegeben hat; es muß ein heldenhaftes Lieben sein, bis hin zur Selbsthingabe. « In diesem Fall aber wäre das Christentum ein heroischer Moralismus. Es ist wahr, daß wir bis zu dieser Radikalität der Liebe vorstoßen müssen, die uns Christus gezeigt und geschenkt hat, aber auch hier besteht die wahre Neuheit nicht in dem, was wir tun, die wahre Neuheit ist das, was er getan hat: der Herr hat uns sich selbst gegeben, und der Herr hat uns die wahre Neuheit geschenkt, die darin besteht, Glieder seines Leibes, Reben des Weinstocks zu sein, der er ist. Die Neuheit also ist das Geschenk, das große Geschenk, und aus dem Geschenk, aus der Neuheit des Geschenks folgt auch, wie ich gesagt habe, das neue Handeln.

Der hl. Thomas von Aquin sagt dies sehr genau, wenn er schreibt: »Das neue Gesetz ist die Gnade des Heiligen Geistes« (Summa theologiae, I-IIae, q. 106, a. 1). Das neue Gesetz ist kein weiteres Gesetz, das schwieriger wäre, als die anderen: Das neue Gesetz ist ein Geschenk, das neue Gesetz ist die Gegenwart des Heiligen Geistes, der uns im Sakrament der Taufe, in der Firmung und jeden Tag in der Allerheiligsten Eucharistie gegeben wird. Die Kirchenväter haben zwischen »sacramentum« und »exemplum« unterschieden. »Sacramentum« ist das Geschenk des neuen Seins, und dieses Geschenk wird auch zum Beispiel für unser Handeln, das »sacramentum« jedoch kommt zuerst, wir leben aus dem Sakrament. Hier sehen wir die Zentralität des Sakraments, welche die Zentralität des Geschenks ist.

Setzen wir unsere Betrachtung fort. Der Herr sagt: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.« Keine Knechte mehr, die einem Befehl gehorchen, sondern Freunde, die im selben Willen, in derselben Liebe vereint sind. Die Neuheit besteht also darin, daß Gott sich zu erkennen gegeben hat, daß Gott sich gezeigt hat, daß Gott nicht mehr der unbekannte Gott ist, der zwar gesucht, aber nicht gefunden oder nur aus der Ferne erahnt wird. Gott hat sich sehen lassen: im Antlitz Christi sehen wir Gott, Gott hat sich zu »erkennen« gegeben, und so hat er uns zu seinen Freunden gemacht. Denken wir daran, wie man in der Geschichte der Menschheit, in allen archaischen Religionen weiß, daß es einen Gott gibt. Das ist eine Erkenntnis, die in das Herz des Menschen eingesenkt ist, daß Gott der eine Gott ist, daß die Götter nicht »der« Gott sind. Dieser Gott aber bleibt sehr weit weg in der Ferne, es scheint, als ließe er sich nicht erkennen, als ließe er sich nicht lieben, er ist kein Freund, sondern in der Ferne. Daher beschäftigen sich die Religionen wenig mit diesem Gott, das konkrete Leben beschäftigt sich mit den Geistern, mit den konkreten Wirklichkeiten, denen wir tagtäglich begegnen und mit denen wir jeden Tag rechnen müssen. Gott bleibt in der Ferne.

Dann sehen wir die große Bewegung der Philosophie: Denken wir an Platon, an Aristoteles, die zu begreifen beginnen, daß dieser Gott das »agathón«, das Gute selbst ist, daß er der »eros« ist, der die Welt bewegt, und dennoch bleibt dies ein menschlicher Gedanke, es ist dies eine Vorstellung von Gott, die der Wahrheit nahekommt, aber es handelt sich um unsere Vorstellung, und Gott bleibt der verborgene Gott.

Vor kurzem hat mir ein Professor aus Regensburg geschrieben, ein Professor für Physik, der mit großer Verspätung meine Ansprache an der Universität Regensburg gelesen hatte, um mir zu sagen, daß er nicht mit meiner Logik einverstanden bzw. dies nur teilweise sein könne. Er hat gesagt: »Gewiß, mich überzeugt die Vorstellung, daß die rationale Struktur der Welt eine schöpferische Vernunft erfordert, die diese Vernünftigkeit geschaffen hat, die sich nicht aus sich selbst erklärt.« Und er fuhr fort: »Wenn es aber auch einen Demiurgen geben kann« – so drückt er sich aus –, »ein Demiurg scheint mir aus dem heraus, was Sie sagen, sicher zu sein, so sehe ich nicht, daß es einen Gott gibt, der Liebe ist, der gut, gerecht und barmherzig ist. Ich kann sehen, daß da eine Vernunft ist, die der Vernünftigkeit des Kosmos vorangeht, das Weitere jedoch nicht.« Und so bleibt Gott verborgen. Er ist eine Vernunft, die unserer Vernunft, unserer Vernünftigkeit vorangeht, die Vernünftigkeit des Seins, aber es gibt keine ewige Liebe, keine große Barmherzigkeit, die uns leben läßt.

Und siehe da: In Christus hat sich Gott in seiner absoluten Wahrheit gezeigt, er hat gezeigt, daß er Vernunft und Liebe ist, daß die ewige Vernunft Liebe ist und auf diese Weise erschafft. Leider leben auch heute viele fern von Christus, sie kennen sein Antlitz nicht, und so erneuert sich fortwährend die ewige Versuchung des Dualismus, die auch im Brief dieses Professors verborgen liegt, das heißt: daß es vielleicht nicht nur ein Prinzip des Guten, sondern auch ein Prinzip des Schlechten, ein Prinzip des Bösen gibt; daß die Welt geteilt ist und es zwei gleichstarke Wirklichkeiten gibt: und daß der gute Gott nur ein Teil der Wirklichkeit ist. Auch in der Theologie, einschließlich der katholischen, verbreitet sich im Moment diese These: Gott sei nicht allmächtig. Auf diese Weise wird eine Apologie Gottes gesucht, der demgemäß keine Verantwortung für das Böse trüge, das wir so weit verbreitet in der Welt finden. Aber wie arm ist doch eine derartige Apologie! Ein nicht allmächtiger Gott! Das Böse ist nicht in seinen Händen! Und wie könnten wir uns einem derartigen Gott anvertrauen? Wie könnten wir in seiner Liebe sicher sein, wenn diese Liebe dort endet, wo die Macht des Bösen beginnt?

Gott aber ist nicht mehr der Unbekannte. Im Antlitz des gekreuzigten Christus sehen wir Gott, wir sehen die wahre Allmacht, nicht einen Allmachtsmythos. Für uns Menschen sind Kraft und Macht immer gleichbedeutend mit dem Vermögen zu zerstören, das Böse zu tun. Der wahre Begriff von Allmacht jedoch, der in Christus zutage tritt, ist genau das Gegenteil: in ihm ist die wahre Allmacht das Lieben bis zu dem Punkt, an dem Gott leiden kann: hier zeigt sich seine wahre Allmacht, die bis zu einer Liebe gehen kann, die für uns leidet. Und so sehen wir, daß er der wahre Gott ist, und der wahre Gott, der Liebe ist, ist Macht: die Macht der Liebe. Und wir können uns seiner Liebe anvertrauen und in dieser, mit dieser allmächtigen Liebe leben.

Ich denke, wir müssen immer von neuem über diese Wirklichkeit nachdenken, Gott danken, daß er sich gezeigt hat, daß wir ihn vom Antlitz her kennen, von Angesicht zu Angesicht; nicht mehr wie Mose, der allein den Rücken des Herrn sehen durfte. Auch dies ist eine schöne Vorstellung, zu der der hl. Gregor von Nyssa sagt: »Nur den Rücken des Herrn sehen will heißen, daß wir immer hinter Christus gehen müssen.« Gleichzeitig aber hat Gott mit Christus sein Gesicht, sein Antlitz gezeigt. Der Vorhang des Tempels ist zerrissen, er ist offen, das Geheimnis Gottes ist sichtbar. Das Erste Gebot, das Bilder Gottes ausschließt, da sie nur dessen Wirklichkeit herabsetzen könnten, ist geändert, es ist erneuert worden und hat eine andere Form. Jetzt können wir im Menschen Christus, das Antlitz Gottes, sehen, wir können Ikonen Christi haben und so sehen, wer Gott ist.

Ich denke: Wer dies begriffen hat, wer sich von diesem Geheimnis berühren läßt, daß Gott sich offenbart hat, daß der Vorhang des Tempels zerrissen ist, daß Gott sein Antlitz gezeigt hat – der findet eine Quelle unaufhörlicher Freude. Wir können nur sagen: »Danke. Ja, jetzt wissen wir, wer du bist, wer Gott ist und wie wir ihm antworten können.« Und ich denke, daß diese Freude, Gott zu kennen, der sich gezeigt hat, der sich bis ins Innerste seines Seins gezeigt hat, auch die Freude einschließt, dies mitzuteilen: Wer dies verstanden hat, wer sich in seinem Leben von dieser Wirklichkeit berühren läßt, muß so handeln, wie dies die ersten Jünger getan haben, die zu ihren Freunden und Brüdern eilen und sagen: »Wir haben den gefunden, von dem die Propheten sprechen. Jetzt ist er da.« Der Charakter der Mission ist nichts, was dem Glauben äußerlich hinzugefügt wäre, sondern die Dynamik des Glaubens selbst. Wer Jesus gesehen hat, wer ihm begegnet ist, muß zu den Freuden eilen und ihnen sagen: »Wir haben ihn gefunden, es ist Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist.«

Der Text sagt dann weiter: »Ich habe euch dazu bestimmt, daß ihr euch aufmacht und Frucht bringt und daß eure Frucht bleibt.« Damit kehren wir zum Anfang zurück, zum Bild, zum Gleichnis des Weinstocks: er ist geschaffen, um Frucht zu bringen. Und was ist die Frucht? Wie wir gesagt haben, ist die Frucht die Liebe. Im Alten Testament mit der Torah als der ersten Etappe der Selbst - offenbarung Gottes verstand man die Frucht als Gerechtigkeit, das heißt als ein Leben nach dem Wort Gottes, als ein Leben im Willen Gottes, das deshalb gut ist.

Dies bleibt, gleichzeitig aber wird darüber hinausgegangen: Die wahre Gerechtigkeit besteht nicht in einem Gehorsam gegenüber einigen Vorschriften, sondern sie ist Liebe, schöpferische Liebe, die aus sich heraus den Reichtum, die Fülle des Guten findet. »Fülle« ist eines der Schlüsselwörter des Neuen Testaments, Gott selbst gibt immer in Fülle. Um den Menschen zu schaffen, schafft er diese Fülle eines immensen Kosmos; um den Menschen von sich selbst zu erlösen, gibt er in der Eucharistie sich selbst. Und wer mit Christus vereint ist, wer Rebe des Weinstocks ist, lebt dieses Gesetz und fragt nicht: »Darf ich das noch tun oder nicht?«, »Soll ich das tun oder nicht?«, sondern er lebt in der Begeisterung der Liebe, die nicht fragt: »Ist das noch notwendig oder verboten?«, sondern er lebt einfach in der Kreativität der Liebe, er will mit Christus und für Christus leben und sich ganz für ihn hingeben und so in die Freude des Fruchtbringens eintreten. Halten wir auch fest, daß der Herr sagt: »Ich habe euch dazu bestimmt, daß ihr euch aufmacht «: das ist die Dynamik, die in der Liebe Christi lebt; sich aufmachen, das heißt nicht nur für mich bleiben, meine Vollkommenheit sehen, mir das ewige Glück garantieren, sondern mich selbst vergessen, mich aufmachen, wie Christus sich aufgemacht hat, mich aufmachen, wie Gott aus seiner unendlichen Hoheit bis hinein in unsere Armut herausgetreten ist, um Frucht zur bringen, um uns zu helfen, um uns die Möglichkeit zu schenken, die wahre Frucht der Liebe zu bringen. Je mehr uns diese Freude erfüllt, das Antlitz Gottes entdeckt zu haben, desto wirklicher wird in uns die Begeisterung der Liebe sein und desto mehr wird sie Frucht bringen.

Und schließlich sind wir beim letzten Wort dieses Abschnittes angekommen: »Das sage ich euch: der Vater wird euch alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet.« Eine kurze Katechese über das Gebet, die uns immer wieder überrascht. In diesem 15. Kapitel sagt der Herr zweimal: »Ich gebe euch, worum ihr bitten werdet «, und ein weiteres Mal tut er dies im 16. Kapitel. Und wir möchten sagen: »Aber nein doch, Herr, das ist nicht wahr.« So viele gute und tiefe Gebete von Müttern, die für ein im Sterben liegendes Kind beten und nicht erhört werden, so viele Gebete, daß etwas Gutes geschehe, und der Herr erhört sie nicht. Was will diese Verheißung besagen? Im 16. Kapitel bietet uns der Herr den Schlüssel zum Verständnis: er sagt uns, wie viel er uns gibt, worin dieses »alles«, die chará, die Freude besteht: Wenn einer die Freude gefunden hat, hat er alles gefunden und sieht alles im Licht der göttlichen Liebe. Wie der hl. Franziskus, der das große Gedicht über die Schöpfung in einer verzweifelten Lage geschaffen hat, und dennoch hat er dort, nahe beim leidenden Herrn, die Schönheit des Seins, die Güte Gottes neu entdeckt und dieses große Gedicht verfaßt.

Es ist nützlich, sich gleichzeitig auch einige Verse aus dem Evangelium des Lukas in Erinnerung zu rufen, wo der Herr in einem Gleichnis vom Gebet spricht und sagt: »Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist euch, seinen Kindern, geben.« Im Evangelium des Lukas ist der Heilige Geist Freude, im Evangelium des Johannes ist er die Wirklichkeit selbst: die Freude ist der Heilige Geist, und der Heilige Geist ist die Freude, oder mit anderen Worten: von Gott erbitten wir nicht irgend etwas Großes oder Kleines, Gott bitten wir um das göttliche Geschenk, um Gott selbst; das ist das große Geschenk, das Gott uns gibt: Gott selbst. In diesem Sinn müssen wir lernen zu beten, zu beten um die große Wirklichkeit, um die göttliche Wirklichkeit, daß er sich uns selbst gebe, daß er seinen Geist gebe und wir so den Anforderungen des Lebens entsprechen und den anderen in ihren Leiden helfen können. Natürlich lehrt uns dies das Vaterunser. Wir dürfen um viele Dinge bitten, in all unseren Nöten dürfen wir bitten: »Hilf mir!« Das ist sehr menschlich, und Gott ist menschlich, wie wir gesehen haben; somit ist es richtig, Gott auch um die kleinen Dinge unseres alltäglichen Lebens zu bitten.

Gleichzeitig aber ist das Beten ein Weg, ich würde sagen eine Treppe: Wir müssen immer mehr lernen, wofür wir beten können und wofür nicht, da es Ausdruck meines Egoismus ist. Ich darf nicht um Dinge beten, die den anderen schaden, ich darf nicht um Dinge beten, die meinem Egoismus, meinem Stolz helfen. So wird das Beten in den Augen Gottes ein Prozeß der Reinigung unserer Gedanken, unserer Wünsche. Wie der Herr im Gleichnis vom Weinstock sagt: Wir müssen beschnitten, gereinigt werden, jeden Tag; mit Christus leben, in Christus bleiben ist ein Prozeß der Reinigung, und nur in diesem Prozeß langsamer Läuterung, der Befreiung von uns selbst und vom Willen, allein uns selbst zu haben, besteht der wahre Weg des Lebens, öffnet sich der Weg der Freude.

Wie ich angedeutet habe, besitzen all diese Worte des Herrn einen sakramentalen Hintergrund. Der fundamentale Hintergrund für das Gleichnis vom Weinstock ist die Taufe: wir sind in Christus eingepflanzt; und die Eucharistie: wir sind ein Brot, ein Leib, ein Blut, ein Leben mit Christus. Und so hat auch dieser Prozeß der Reinigung einen sakramentalen Hintergrund: das Sakrament der Buße, der Versöhnung, in dem wir diese göttliche Pädagogik annehmen, die uns Tag um Tag das ganze Leben lang reinigt und uns zu immer wahreren Gliedern seines Leibes macht. Auf diese Weise können wir lernen, daß Gott auf unsere Gebete antwortet, daß er oft mit seiner Güte auch auf die kleinen Gebete antwortet, sie aber auch oft berichtigt, verwandelt und führt, damit wir endlich und wirklich Reben seines Sohnes, des wahren Weinstocks, sein können, Glieder seines Leibes.

Danken wir Gott für die Größe seiner Liebe, bitten wir, daß er uns helfe, in seiner Liebe zu wachsen, wirklich in seiner Liebe zu bleiben.

   

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