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60. JAHRESTAG DES BEGINNS DES ZWEITEN ÖKUMENISCHEN VATIKANISCHEN KONZILS 

HEILIGE MESSE

PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS 

Petersdom
Dienstag, 11. Oktober 2022
Gedenktag des heiligen Papstes Johannes XXIII.

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»Liebst du mich?«. Dies ist der erste Satz, den Jesus im eben gehörten Evangelium zu Petrus sagt (Joh 21,15). Der letzte hingegen lautet: »Weide meine Schafe« (V. 17). Am Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils wollen wir diese Worte des Herrn auch auf uns, auf uns als Kirche, beziehen: Liebst du mich? Weide meine Schafe.

1. Zuerst: Liebst du mich? Das ist eine Frage, denn der Stil Jesu ist nicht so sehr, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen, Fragen, die das Leben herausfordern. Und der Herr, der «aus überströmender Liebe die Menschen an[spricht] wie Freunde« (Dei Verbum, 2), fragt erneut, er fragt die Kirche, seine Braut, immer: „Liebst du mich?“ Das Zweite Vatikanische Konzil war eine bedeutende Antwort auf diese Frage. Um ihre Liebe neu zu beleben, widmete die Kirche zum ersten Mal in der Geschichte ein Konzil der Selbstbefragung, dem Nachdenken über ihr eigenes Wesen und ihre Sendung. Und sie entdeckte sich selbst wieder als Geheimnis der Gnade, das aus der Liebe hervorgeht: Sie entdeckte sich neu als Volk Gottes, als Leib Christi, als lebendiger Tempel des Heiligen Geistes!

Das ist der erste Blick, mit dem man auf die Kirche schauen muss, der Blick von oben. Ja, die Kirche muss zuerst von oben betrachtet werden, mit Gottes liebenden Augen. Fragen wir uns, ob wir in der Kirche von Gott ausgehen, von seinem liebenden Blick auf uns. Es besteht immer die Versuchung, dass wir vom eigenen Ich statt von Gott ausgehen, dass wir unsere Ziele über das Evangelium stellen, uns vom Wind der Weltlichkeit mitreißen lassen und den Moden der Zeit hinterherjagen, dass wir die Gegenwart ablehnen, die uns die Vorsehung schenkt, und uns nach der Vergangenheit umwenden. Doch Vorsicht: Sowohl der Progressivismus, der sich der Welt anpasst, wie auch der Traditionalismus oder die Rückwärtsgewandtheit, welche einer vergangenen Welt nachtrauern, sind keine Beweise der Liebe, sondern der Untreue. Es sind pelagianische Egoismen, die ihre eigenen Vorlieben und ihre eigenen Pläne über die Liebe stellen, die Gott gefällt, jene einfache, demütige und treue Liebe, nach der Jesus Petrus gefragt hat.

Liebst du mich? Entdecken wir das Konzil neu, um Gott den Vorrang zurückzugeben, und dem, was wesentlich ist: einer Kirche, die verrückt ist vor Liebe zu ihrem Herrn und zu allen Menschen, die von ihm geliebt sind; einer Kirche, die reich an Jesus und arm an Mitteln ist; einer Kirche, die frei und befreiend ist. Das Konzil weist der Kirche diesen Weg: Es bringt sie dazu, wie Petrus im Evangelium nach Galiläa zurückzukehren, zum Quell ihrer ersten Liebe, um in ihrer Armut die Heiligkeit Gottes wiederzuentdecken (vgl. Lumen gentium, 8c; Kap. V). Auch wir, jeder von uns hat sein eigenes Galiläa, das Galiläa der ersten Liebe, und gewiss ist auch jeder von uns heute eingeladen, in sein eigenes Galiläa zurückzukehren, um die Stimme des Herrn zu hören: „Folge mir nach“. Dorthin, um im Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn die verlorengegangene Freude wiederzufinden, um sich auf Jesus zu konzentrieren. Die Freude wiederfinden: eine Kirche, die die Freude verloren hat, hat die Liebe verloren. Gegen Ende seiner Tage schrieb Papst Johannes: »Dieses mein Leben, das sich dem Ende zuneigt, könnte nicht besser enden, als in meiner vollen Hinwendung zu Jesus, dem Sohn Marias ... große und andauernde Vertrautheit mit Jesus, in Bildern betrachtet als Kind, als Gekreuzigter, angebetet im Sakrament« (Geistliches Tagebuch, 977-978). Das also ist unser nach oben gerichteter Blick, das also ist unsere immer lebendige Quelle: Jesus, das Galiläa der Liebe, Jesus, der uns ruft, Jesus, der uns fragt: „Liebst du mich?

Brüder, Schwestern, kehren wir zurück zum reinen Quell der Liebe des Konzils. Lasst uns die Leidenschaft des Konzils wiederentdecken und unsere Leidenschaft für das Konzil erneuern! In das Geheimnis der Kirche – Mutter und Braut – eingetaucht, wollen auch wir mit Johannes XXIII. sagen: Gaudet Mater Ecclesia! (Ansprache bei der Konzilseröffnung, 11. Oktober 1962). Die Kirche soll von Freude erfüllt sein. Wenn sie sich nicht freut, verleugnet sie sich selbst, weil sie die Liebe vergisst, die sie erschaffen hat. Doch wie vielen von uns gelingt es nicht, den Glauben freudig zu leben, ohne zu murren und herumzukritisieren? Eine Kirche, die Jesus liebt, hat keine Zeit für Auseinandersetzungen, Gift und Polemik. Gott befreie uns vom Kritisieren, von Unduldsamkeit, Härte und Wut. Das ist nicht nur eine Frage des Stils, sondern der Liebe, denn wer liebt – so sagt der Apostel Paulus – tut alles ohne Murren (vgl. Phil 2,14). Herr, lehre uns deinen Blick aus der Höhe, lehre uns die Kirche so zu sehen, wie du sie siehst. Und wenn wir kritisch und unzufrieden sind, erinnere uns daran, dass Kirche sein bedeutet, die Schönheit deiner Liebe zu bezeugen, dass es bedeutet, in Antwort auf deine Frage zu leben: Liebst du mich? Es ist also nicht wie bei einer Totenwache.

2. Liebst du mich? Weide meine Schafe. Das zweite Wort: Weide. Mit diesem Verb drückt Jesus die Liebe aus, die er sich von Petrus wünscht. Denken wir an eben diesen Petrus: Er war ein Fischer, der Fische fing, und Jesus hatte ihn zu einem Menschenfischer gemacht (vgl. Lk 5,10). Nun gibt er ihm einen neuen Beruf, den des Hirten, den er nie ausgeübt hatte. Und das ist ein Wendepunkt, denn während der Fischer etwas für sich selbst nimmt, etwas an sich zieht, kümmert sich der Hirte um andere, weidet er andere. Darüber hinaus lebt der Hirte mit der Herde, er nährt die Schafe und hängt an ihnen. Er steht nicht darüber, wie der Fischer, sondern mittendrin. Der Hirte geht dem Volk voraus, um den Weg zu weisen, er ist in der Mitte des Volkes, als einer von ihnen, und hinter dem Volk, um denen nahe zu sein, die etwas zurückliegen. Der Hirte steht nicht droben, wie der Fischer, sondern mittendrin. Das ist der zweite Blick, den uns das Konzil lehrt, den Blick von Mittendrin: mit den anderen in der Welt zu sein, ohne sich ihnen überlegen zu fühlen, als Diener des großen Reiches Gottes (vgl. Lumen gentium, 5); die Frohbotschaft des Evangeliums in das Leben und die Sprache der Menschen hinein zu übertragen (vgl. Sacrosanctum Concilium, 36), ihre Freuden und Hoffnungen zu teilen (vgl. Gaudium et spes, 1). Inmitten der Leute sein, nicht über dem Volk: das ist die hässliche Sünde des Klerikalismus, der die Schafe tötet, der sie nicht führt, der sie nicht wachsen lässt, sondern tötet. Wie aktuell ist doch das Konzil: Es hilft uns, der Versuchung zu widerstehen, uns in den Schutz unserer Bequemlichkeit und unserer Überzeugungen einzuschließen, um den Stil Gottes nachzuahmen, den der Prophet Ezechiel uns heute beschreibt: »Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen« (vgl. Ez 34,16).

Weide: die Kirche hat das Konzil nicht abgehalten, um sich selbst zu bewundern, sondern um sich zu verschenken. Tatsächlich existiert unsere heilige hierarchische Mutter, die aus dem Herzen der Dreifaltigkeit hervorgegangen ist, um zu lieben. Sie ist ein priesterliches Volk (vgl. Lumen gentium, 10 ff.): Sie braucht sich nicht vor den Augen der Welt auszuzeichnen, sondern sie muss der Welt dienen. Vergessen wir das nicht: Das Volk Gottes ist von Anfang an nach Außen gerichtet und es wird wieder jung, wenn es sich hingibt, denn es ist das Sakrament der Liebe, »das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (Lumen gentium, 1). Brüder und Schwestern, kehren wir zum Konzil zurück, das den lebendigen Fluss der Tradition wiederentdeckt hat, ohne in den Traditionen zu erstarren; das die Quelle der Liebe wiederentdeckt hat, nicht um auf dem Berg zu bleiben, sondern damit die Kirche ins Tal hinabsteige und ein Kanal der Barmherzigkeit für alle werde. Kehren wir zum Konzil zurück, um aus uns selbst herauszugehen und die Versuchung der Selbstbezogenheit zu überwinden, welche etwas sehr Weltliches ist. Weide, so sagt der Herr zu seiner Kirche von Neuem; und indem du weidest, überwinde die Nostalgie der Vergangenheit, die Trauer um den Bedeutungsverlust, die Anhänglichkeit an die Macht, denn du, das heilige Volk Gottes, bist ein Hirtenvolk: du bist nicht dazu da, dich selbst zu weiden, aufzusteigen, sondern um die anderen zu weiden, alle anderen, mit Liebe. Und wenn es richtig ist, für jemanden besondere Sorge zu tragen, dann für die von Gott besonders Geliebten, d.h. für die Armen, die Ausgestoßenen (vgl. Lumen gentium, 8c; Gaudium et spes, 1); um, wie Papst Johannes sagte, »die Kirche aller, besonders der Armen« zu sein (Radioansprache an die Gläubigen in aller Welt einen Monat vor Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, 11. September 1962).

3. Liebst du mich? Weide – so schließt der Herr – meine Schafe. Er meint damit nicht nur einige, sondern alle, denn er liebt sie alle, alle nennt er liebevoll „meine“. Der gute Hirte sieht und will seine Herde vereint unter der Führung der Hirten, die er ihm gegeben hat. Er will – das ist der dritte Blick – den Blick für das Ganze: alle, alle zusammen. Das Konzil erinnert uns daran, dass die Kirche nach dem Bild der Dreifaltigkeit Gemeinschaft ist (vgl. Lumen gentium, 4.13). Der Teufel hingegen will das Unkraut der Spaltung säen. Erliegen wir nicht seinen Täuschungen, erliegen wir nicht der Versuchung der Polarisierung. Wie oft haben sich Christen nach dem Konzil für eine Seite in der Kirche entschieden, ohne sich bewusst zu sein, dass sie damit das Herz ihrer Mutter zerreißen! Wie oft wollte man lieber ein „Anhänger der eigenen Gruppierung“ als ein Diener aller sein, Progressive und Konservative statt Brüder und Schwestern, „der Rechten“ oder „der Linken“ statt Jesus zugehörig; sie haben sich als „Hüter der Wahrheit“ oder „Solisten des Neuen“ aufgespielt, statt sich als demütige und dankbare Kinder der Heiligen Mutter Kirche zu sehen. Alle, allesamt sind wir Kinder Gottes, alle Geschwister in der Kirche, alle sind wir Kirche, alle. Der Herr will uns nicht so haben: Wir sind seine Schafe, seine Herde, und wir sind das nur gemeinsam, vereint. Überwinden wir die Polarisierungen und bewahren wir die Gemeinschaft, werden wir mehr und mehr „eins“, wie Jesus betete, bevor er sein Leben für uns hingab (vgl. Joh 17,21). Möge Maria, die Mutter der Kirche, uns dabei helfen. Möge sie in uns die Sehnsucht nach Einheit und das Streben nach voller Gemeinschaft unter allen Christgläubigen stärken. Lassen wir die „Ismen“ beiseite: Das Volk Gottes mag diese Polarisierung nicht. Das Volk Gottes ist das heilige, gläubige Volk Gottes: das ist die Kirche. Es ist schön, dass heute, wie auch während des Konzils, Vertreter anderer christlicher Gemeinschaften unter uns sind. Danke! Danke, für euer Kommen, danke für eure Anwesenheit!

Wir danken dir, Herr, für das Geschenk des Konzils. Du, der du uns liebst, befreie uns von der Überheblichkeit der Selbstgenügsamkeit und dem Geist weltlichen Kritisierens. Befreie uns davon, dass wir uns selbst aus der Einheit ausschließen. Du, der du uns liebevoll weidest, führe uns aus dem Gehege der Selbstbezogenheit heraus. Du, der du willst, dass wir eine geeinte Herde sind, befreie uns von der teuflischen Finesse der Polarisierungen, der „Ismen“. Und wir, deine Kirche, sagen mit Petrus und wie Petrus zu dir: „Herr, du weißt alles; du weißt, dass wir dich lieben“ (vgl. Joh 21,17).



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