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VORWORT VON PAPST FRANZISKUS
ZU DEM BUCH VON KARDINAL TARCISIO BERTONE
ÜBER DIE PÄPSTLICHE DIPLOMATIE

HERAUSFORDERUNG FÜR DIE ZUKUNFT

 

L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 43. Jahrgang, Nr. 47, 22. November 2013.

 

Mit diesem Buch vertraut Kardinal Tarcisio Bertone all jenen, die im diplomatischen Dienst des Heiligen Stuhls stehen – und nicht nur – eine ganze Reihe von Reflexionen über die grundlegenden Fragen an, die das Leben der Völkergemeinschaft und die tiefsten Bestrebungen der Menschheitsfamilie betreffen: den Frieden, die Entwicklung, die Menschenrechte, die Religionsfreiheit, die staatenübergreifende Integration.

Hinsichtlich der Papst-Diplomatie schließlich geben diese Reflexionen wertvolle Hinweise, die es erlauben, ihre Einzigartigkeit zu erkennen, angefangen bei der Gestalt des Diplomaten, Priesters und Hirten, der gerufen ist zu einem Wirken, das unter gleichzeitiger Wahrung des streng institutionellen Charakters von pastoralem Geist durchdrungen ist. Genau dieses Wirken prägte auch den siebenjährigen Dienst, den Kardinal Bertone als Staatssekretär leistete, in großherziger und treuer Unterstützung des Pontifikats von Benedikt XVI. Sein willkommener Dienst an der Kirchenspitze wurde – sowohl was den administrativen Bereich der Römischen Kurie als auch die internationalen Beziehungen des Heiligen Stuhls betrifft – in den ersten Monaten meines Pontifikats fortgesetzt. Die langjährige Erfahrung und Besonnenheit dieses Dieners der Kirche hat auch mir geholfen, als ich aus einem fernen Land auf den Stuhl Petri berufen wurde und ein Netz von institutionellen Beziehungen geknüpft werden musste, ohne die ein Papst nicht auskommen kann.

Die Begegnung mit Kardinal Tarcisio Bertone, der bekannt ist für seine Rolle und sein joviales Wesen, war für mich in der Vergangenheit von drei besonderen Momenten geprägt. Ich erinnere mich vor allem an die erste Begegnung im Johannesturm im Vatikan am 11. Januar 2007, wo ich mit der Leitung der argentinischen Bischofskonferenz zu Gast war: damals kam es zu einem sachlichen und gleichzeitig auch überaus konstruktiven Austausch über die Probleme, mit denen wir zu kämpfen hatten. Als Bertone 2007 als Päpstlicher Legat zur Seligsprechungszeremonie von Zeffirino Namuncurá nach Argentinien kam, weckten seine brüderliche Art im Umgang mit den Bischöfen der Bischofskonferenz und die salesianische Aufgeschlossenheit, mit der er den Menschen nach jeder öffentlichen Zelebration begegnete, mein Interesse und meine Bewunderung.

Kardinal Bertone hatte bei seinen Gesprächen mit den führenden Politikern unseres Landes betont, dass die Kirche für Frieden und Versöhnung eintrete und diese notwendig dafür seien, das soziale Gefüge wieder herzustellen, das von vielen Situationen, die die nationale Eintracht gefährdet hatten, in Mitleidenschaft gezogen worden war. Damit leistete er dem Werk, das der argentinische Episkopat begonnen hatte, um das ethische, soziale und institutionelle Gewebe des Landes wieder aufzubauen, wertvolle Schützenhilfe. Ein paar Monate zuvor war in Brasilien die 5. Generalkonferenz des Episkopats Lateinamerikas und der Karibik abgehalten worden (9. bis 14. Mai 2007). Auch ich nahm in meiner damaligen Eigenschaft als Primas der Kirche Argentiniens daran teil. Und bei dieser Gelegenheit konnte ich feststellen, dass Bertone, der Papst Benedikt XVI. begleitete, nicht nur an den wichtigen kirchlichen Aspekten interessiert war, sondern auch an der im Schlussdokument dargelegten sozialen und kulturellen Dimension, die in erster Linie die kirchlichen Gemeinschaften Lateinamerikas auf den Plan rief.

Dieses Interesse geht auch aus den vielen Vorträgen hervor, die er überall auf der Welt hielt und die sowohl an die Kirche als Ganze und ihre Strukturen gerichtet waren als auch an politische Ansprechpartner verschiedener Staaten und ein breitgefächertes öffentliches Publikum.

Auffallend ist die Aufmerksamkeit der komplexen globalen Krise gegenüber, die wir gerade erleben und die den Gedanken an eine Welt ohne Grenzen konkret werden lässt. Wenn die Krise aber für alle eine Gewissheit ist, dann müssen wir auch über die bereits getroffenen Entscheidungen nachdenken, wie auch darüber, welchen Kurs wir in Zukunft einschlagen sollen. Hier kommt die Verantwortung ins Spiel, die die Personen und Institutionen dafür tragen, die vielen Hindernisse auszuräumen, die die Grenzen ersetzt haben: Ungleichheit, Wettrüsten, Unterentwicklung, Verletzung der Grundrechte, Diskriminierungen, Einschränkungen des sozialen, kulturellen und religiösen Lebens.

Das aber macht nicht nur eine realistische Reflexion über den Mikrokosmos unseres Alltagslebens erforderlich, sondern auch über die Art der Beziehungen, die die Völkergemeinschaft vereinen, und über die Spannungen, die es in ihrem Innern gibt. Dies gilt in besonderer Weise für die Arbeit der Diplomatie, die durch ihre Protagonisten, ihre Regeln und ihre Methoden zum Bau des Gemeinwohls beiträgt und vor allem gerufen ist, die internationalen Fakten zu interpretieren, was ja letztlich auch eine Art und Weise ist, die Realität zu interpretieren.

Diese Realität sind wir, die Menschheitsfamilie, die in Bewegung ist, fast ein Werk in ständigem Aufbau, das den Ort und die Zeit einschließt, in die die Geschichte von uns Männern und Frauen, unserer Gemeinschaft und unserer Völker eingebettet ist. Die Diplomatie ist also ein Dienst und keine Aktivität, die von Eigeninteressen diktiert wird, deren logische, aber bittere Konsequenz Kriege, innere Konflikte und verschiedene Formen von Gewalt sind; und sie ist auch nicht das Werkzeug der Bedürfnisse weniger, die die Mehrheiten ausschließen, Armut und Ausgrenzung schaffen, jede Art von Korruption tolerieren und Privilegien und Ungerechtigkeiten fördern.

Die tiefe Krise der Überzeugungen, der Werte und der Ideen eröffnet der Diplomatie neue Möglichkeiten, die gleichzeitig aber auch eine Herausforderung sind. Die Herausforderung nämlich, dabei wettzueifern, wirklich neue gerechte und solidarische Beziehungen zwischen den Nationen schaffen, wobei jede Nation und jede Person in ihrer Identität und Würde respektiert und in ihrer Freiheit bestärkt wird. Auf diese Weise haben die verschiedenen Länder die Gelegenheit, ihre Zukunft zu planen und die Menschen können entscheiden, wie sie ihre Bestrebungen als nach dem Bild des Schöpfers geschaffene Geschöpfe am besten umsetzen wollen.

In dieser historischen Phase der Völkergemeinschaft müssen die Regeln und Institutionen einen Kurs einschlagen, der sich wieder auf ihre jeweiligen konstitutiven Wurzeln besinnt und die Menschheitsfamilie in eine Zukunft führt, die nicht nur die Sprache des Friedens und der Entwicklung spricht, sondern fähig ist, alle einzuschließen und zu verhindern, dass jemand ausgegrenzt bleibt. Das bedeutet, dass wir die derzeitige nationale und internationale Situation hinter uns lassen müssen, in der das Fehlen von starken Überzeugungen und langfristigen Programmen mit der tiefen Krise jener Werte einhergeht, die schon von jeher das Fundament aller sozialen Bindungen sind.

Angesichts dieser lähmenden negativen Globalisierung ist die Diplomatie gerufen, ein Werk des Wiederaufbaus einzuleiten, ihre prophetische Dimension neu zu entdecken, das abzustecken, was wir Utopie des Guten nennen können und es – wenn nötig – auch einzufordern. Hier geht es nicht darum, jenen gesunden Realismus beiseite zu lassen, der für jeden Diplomaten eine Tugend – keine Technik – ist, sondern die Vorherrschaft des Kontingenten zu überwinden, die Grenzen eines pragmatischen Handelns, das oft den Beigeschmack des Rückschritts hat: Eine Art und Weise zu denken und zu handeln, die – sollte sie überwiegen – jedes soziale und politische Handeln einschränkt und den Bau des Gemeinwohls behindert.

Die wahre Utopie des Guten, die weder Ideologie noch reine Philanthropie ist, kann durch die Diplomatie jene Brüderlichkeit zum Ausdruck bringen und konsolidieren, die in der Menschheitsfamilie wurzelt und von dort gerufen ist zu wachsen und sich auszubreiten, um Frucht zu bringen.

Eine erneuerte Diplomatie braucht neue Diplomaten; Menschen also, die fähig sind, dem internationalen Leben den Sinn für Gemeinschaft wieder zu geben. Doch dazu muss die Logik des Individualismus, des unlauteren Wettbewerbs, des Strebens danach, der Erste zu sein, gebrochen und stattdessen eine Ethik der Solidarität gefördert werden, die die Ethik der Macht ersetzt, die inzwischen auf ein Denkmodell reduziert wurde, das nur noch den Einsatz der Kraft rechtfertigen will: Der Kraft, die dazu beiträgt, die sozialen und strukturellen Bande zwischen den Völkern zu zerreißen und alle Bindungen zu zerstören, die uns alle so eng an andere Personen binden, dass wir unser Schicksal mit ihnen teilen. Der Kurs, den die internationalen Beziehungen nehmen werden, wird also von der Vorstellung abhängen, die wir vom anderen haben: Person, Volk, Staat.

Und genau hier liegt der Schlüssel zur Wiedergeburt jener Einheit unter den Völkern, die die Verschiedenheit annimmt, aber auch den historischen, politischen, religiösen, biologischen, psychologischen und sozialen Elementen Rechnung trägt, die Ausdruck dieser Verschiedenheit sind. Trotz aller Grenzen, Einschränkungen und Hindernisse ist es möglich, die im Laufe der Zeit entstandenen Verhaltensweisen, Werte und Regeln in Einklang miteinander zu bringen und zu integrieren.

Die christliche Perspektive versteht sowohl das zu würdigen, was wahrhaft menschlich ist, als auch das, was der Freiheit der Person entspringt, ihrer Aufgeschlossenheit für das Neue, ja letztlich ihrem Geist, der die menschliche Dimension mit der transzendenten vereint. Das ist einer der Beiträge, die die Papst-Diplomatie der gesamten Menschheit anbietet, wenn sie daran arbeitet, die moralische Dimension der internationalen Beziehungen wiederaufleben zu lassen – jene Dimension, die es der Menschheitsfamilie ermöglicht, gemeinsam zu leben und sich zu entwickeln, ohne einer des anderen Feind zu werden.

So wie der Mensch seine Menschlichkeit in der Kommunikation zum Ausdruck bringt, in der Beziehung, in der Liebe zu seinem Nächsten, so können die verschiedenen Nationen gemeinsame Ziele und Vorgangsweisen vorantreiben und ein tiefes Gefühl der Zusammengehörigkeit schaffen. Noch mehr aber können sie dabei helfen, innerhalb der Völkergemeinschaft unitäre Institutionen zu schaffen, die fähig sind, einen Dienst zu leisten, der die Identität und die freie Verantwortung der einzelnen Länder nicht leugnet. Der Dienst dieser Institutionen wird es sein, den Bedürfnissen der verschiedenen Völker Rechnung zu tragen, also die Fähigkeiten und Bedürfnisse des anderen zu entdecken. Und das bedeutet eine Absage an die Gleichgültigkeit oder an eine internationale Zusammenarbeit, die Frucht des utilitaristischen Egoismus ist, um stattdessen durch gemeinsame Einrichtungen etwas für die anderen zu tun.

Ein so verstandener Dienst ist mehr als ein rein ethisches Engagement oder eine Form von freiwilligem Hilfsdienst; er ist auch kein ideales Ziel, sondern eine Entscheidung, die Frucht einer sozialen Bindung ist, die in jener Liebe wurzelt, die fähig ist, eine neue Menschlichkeit zu bauen, eine neue Art zu leben. Wenn wir nämlich die Staatsräson oder den Individualismus das letzte Wort haben lassen, werden wir weder die Konflikte aus der Welt schaffen, noch den Rechten der Personen den richtigen Stellenwert geben.

Das wichtigste Recht eines Volkes und einer Person besteht nicht darin, nicht daran gehindert zu werden, ihre Bestrebungen umzusetzen, sondern darin, diese effektiv und vollkommen umsetzen zu können. Es reicht nicht, Ungerechtigkeit zu vermeiden, wenn man es auf der anderen Seite versäumt, die Gerechtigkeit zu fördern. Es reicht nicht, die Kinder davor zu bewahren, alleingelassen, missbraucht oder misshandelt zu werden, wenn man es versäumt, die jungen Menschen zu einer vollen und unentgeltlichen Liebe zum menschlichen Leben in all seinen Phasen zu erziehen; wenn man den Familien nicht die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellt, die sie brauchen, um ihre unabdingbare Sendung erfüllen zu können; wenn man nicht in der ganzen Gesellschaft eine Haltung der Aufnahme und der Liebe zum Leben aller und eines jeden ihrer Mitglieder fördert.

Eine Staatengemeinschaft kann dann als reif bezeichnet werden, wenn die Freiheit ihrer Mitglieder die volle Verantwortung trägt für die Freiheit der anderen, auf der Grundlage der Liebe, die tätige Solidarität ist. Diese wächst jedoch nicht spontan, sondern impliziert die Notwendigkeit, Arbeit, Geduld, tägliches Engagement, Ehrlichkeit, Demut, Professionalität zu investieren. Oder ist das etwa nicht der Königsweg, den zu beschreiten die Diplomatie in diesem 21. Jahrhundert gerufen ist?

Diese Arbeit gibt uns viele bedeutungsvolle Anregungen, und sie zeigt, wie gut es Kardinal Bertone verstanden hat, nicht nur die Botschaft des Evangeliums dazulegen, sondern auch die Werte und die großen Anliegen der Lehre der Kirche, im Einklang mit den Grundlinien des Lehramts von Benedikt XVI., mit der Ausgewogenheit und der Sachlichkeit, die notwendig dafür sind, eine Kultur des Dialogs zu begünstigen, wie sie dem Heiligen Stuhl am Herzen liegt.

Der Maßstab des Lebens eines Dieners der Kirche wird nicht davon diktiert, »eine Nachricht in großen Lettern zu drucken, damit die Leute glauben, sie wäre unantastbar wahr« (Jorge Luis Borges); er ist vielmehr – wenn auch stets innerhalb der Grenzen der Befindlichkeit und Möglichkeit des Einzelnen – verflochten mit dem stillen und großherzigen Wirken für das wahre Wohl des Leibes Christi und den dauerhaften Dienst für die Sache des Menschen. Aus diesem Grund wird die Geschichte, deren Maß die Wahrheit des Kreuzes ist, auch zeigen, wie intensiv das Wirken Kardinal Bertones war. Sie wird zeigen, dass er nicht nur einen eines echten Piemontesen würdigen Arbeitseifer unter Beweis gestellt hat und keine Mühen scheute, um das Wohl der Kirche voranzutreiben, sondern auch, dass er ein Mann von umfassender kultureller und intellektueller Bildung ist und von einer zuversichtlichen inneren Kraft getrieben wird, die uns an die Worte des Völkerapostels denken lässt: »Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt« (Gal 6,14).



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