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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH MEXIKO
(12.-18. FEBRUAR 2016)

BEGEGNUNG MIT DEN FAMILIEN

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS

Stadion “Víctor Manuel Reyna”, Tuxtla Gutiérrez
Montag, 15. Februar 2016

[Multimedia]


 

Liebe Brüder und Schwestern,

ich danke Gott, dass ich in diesem Land von Chiapas bin.  Es ist gut, auf diesem Boden zu stehen, es ist gut, in diesem Land zu sein, es ist gut, an diesem Ort zu sein, der mit euch eine familiäre, häusliche Atmosphäre annimmt. Ich danke euch für eure Gesichter und für eure Gegenwart, ich danke Gott für seine pulsierende Gegenwart in euren Familien. Und ein Dank auch an euch Familien und Freunde, die ihr uns euer Zeugnis geschenkt habt, die ihr uns die Türen eurer Häuser, die Türen eures Lebens geöffnet habt; die ihr uns erlaubt habt, an eurem „Tisch“ zu sitzen und das Brot, das euch nährt, mit euch zu teilen wie auch Anteil zu nehmen an dem Schweiß angesichts der täglichen Schwierigkeiten. Das Brot der Freuden, der Hoffnung, der Träume und den Schweiß angesichts der Bitternisse, der Enttäuschungen und des Fallens. Danke, dass ihr uns erlaubt habt, in eure Familien einzutreten und an eurem Tisch, an eurer Feuerstelle Platz zu nehmen.

Manuel, bevor ich dir danke für dein Zeugnis, möchte ich deinen Eltern danken, die beide vor dir kniend dir das Papier gehalten haben. Habt ihr gesehen, was das für ein Bild ist? Die Eltern auf den Knien vor dem kranken Sohn. Vergessen wir dieses Bild nicht! Manchmal streiten sie, manchmal. Welche Eheleute streiten sich nicht? Umso mehr, wenn die Schwiegermutter sich einmischt… doch das ist nicht wichtig. Aber sie lieben sich! Und sie haben uns gezeigt, dass sie einander lieben und aufgrund ihrer Liebe fähig sind, vor ihrem kranken Sohn niederzuknien. Danke, liebe Freunde, für dieses Zeugnis, das ihr gegeben habt, und macht weiter so! Danke!

Und dir, Manuel, danke ich für dein Zeugnis und besonders für dein Beispiel. Mir hat dieser Ausdruck gefallen, den du gebraucht hast: „alles dransetzen“, wie die Haltung, die du einnahmst, nachdem du mit deinen Eltern gesprochen hattest. Du hast begonnen, in deinem Leben alles dranzusetzen, in deiner Familie alles dranzusetzen, unter deinen Freunden alles dranzusetzen, und bei uns, die wir hier versammelt sind, hast du alles drangesetzt. Danke. Ich glaube, es ist das, was der Heilige Geist immer in unserer Mitte tun möchte: alles dransetzen, uns Beweggründe schenken, damit wir weiterhin auf die Familie bauen, unseren Träumen nachgehen, ein Leben aufbauen, das eine Atmosphäre des Zuhauses und der Familie hat. Wollen wir alles dransetzen? [Antwort: „Ja!“] Danke.

Und es ist das, was Gottvater sich immer erträumt hat und worum Gottvater sich von alters her bemüht hat. Als an jenem Abend im Garten von Eden alles verloren schien, hat Gottvater für das junge Paar alles drangesetzt und ihnen gesagt, dass nicht alles verloren sei. Und als das Volk Israel spürte, dass es auf dem Weg durch die Wüste nicht mehr weiter konnte, hat Gottvater für sie mit dem Manna alles drangesetzt. Und als die Fülle der Zeit gekommen war, hat Gottvater für immer alles drangesetzt für die Menschheit und uns seinen Sohn gesandt.

Auf dieselbe Weise haben wir alle, die wir hier sind, eine solche Erfahrung gemacht, in vielen Momenten und unterschiedlichen Formen: Gottvater hat für unser Leben alles drangesetzt. Wir können uns fragen: Warum?

Weil er nicht anders kann. Gott, unser Vater, kann nicht anders als uns lieben und für uns alles dransetzen, uns ankurbeln, uns voranbringen; er kann nicht anders, denn sein Name ist Liebe, sein Name ist Geschenk, sein Name ist Hingabe, sein Name ist Barmherzigkeit. Das hat er uns mit allem Nachdruck und in aller Klarheit in Jesus, seinem Sohn geoffenbart, der alles aufs Spiel gesetzt hat bis zum Äußersten, um das Reich Gottes wieder möglich zu machen. Ein Reich, das uns einlädt, uns an dieser neuen Logik zu beteiligen, die eine Dynamik in Gang setzt, die fähig ist, die Himmel zu öffnen, fähig, unsere Herzen, unseren Verstand und unsere Hände zu öffnen und uns mit neuen Horizonten herauszufordern. Ein Reich, das die Atmosphäre einer Familie, eines miteinander geteilten Lebens hat. In Jesus und mit Jesus ist dieses Reich möglich. Er ist imstande, unseren Blick, unser Verhalten, unsere Gefühle, die oft „verwässert“ sind, in festlichen Wein zu verwandeln. Er ist imstande, unsere Herzen zu heilen und uns immer wieder einzuladen, siebzigmal siebenmal neu zu beginnen. Er ist imstande, immer alles neu zu machen.

Manuel, du hast mich gebeten, für viele Jugendliche zu beten, die entmutigt sind und schlechte Wege gehen. Wir wissen das, nicht wahr? Für viele mutlose, kraftlose, lustlose Jugendliche. Und wie du gut gesagt hast, Manuel, entsteht diese Haltung oft, weil sie sich einsam fühlen, weil sie niemanden haben, mit dem sie sprechen können. Überlegt mal, ihr Väter, überlegt mal, ihr Mütter: Sprecht ihr mit euren Söhnen und euren Töchtern? Oder seid ihr immer beschäftigt, erschöpft? Spielt ihr mit euren Kindern? Und das hat mich an das Zeugnis erinnert, das Beatriz uns geschenkt hat. Beatriz, du hast gesagt: „Der Kampf war immer schwierig wegen der Unsicherheit und der Einsamkeit.“ Wie oft hast du gespürt, dass man mit dem Finger auf dich zeigte, dich verurteilte: „die da…“. Denken wir an all die Menschen, an all die Frauen, die dasselbe durchmachen, was Beatriz durchgemacht hat. Die Unsicherheit, der Mangel, die Situation, oftmals nicht das Nötigste zu haben, kann uns zur Verzweiflung bringen, kann ein starkes Angstgefühl in uns auslösen, weil wir nicht wissen, wie wir weitermachen sollen, und umso mehr, wenn wir Kinder unterhalten müssen. Die Unsicherheit bedroht nicht nur den Magen (und das will schon viel heißen), sondern sie kann auch die Seele bedrohen, kann uns demotivieren, entkräften und uns mit Wegen oder Alternativen versuchen, die eine Lösung zu bieten scheinen, am Ende aber gar nichts lösen. Und du warst tapfer, Beatriz, danke. Es gibt eine Unsicherheit, die sehr gefährlich sein und sich in uns hineinschleichen kann, ohne dass wir es bemerken, und das ist die Unsicherheit, die aus der Einsamkeit und der Isolierung entsteht. Und die Isolierung ist immer ein schlechter Ratgeber.

Manuel und Beatriz haben, ohne es zu merken, denselben Ausdruck gebraucht, beide zeigen uns, dass oft die größte Versuchung, der wir begegnen, darin besteht, uns „alleine abzukapseln“, weit davon entfernt, „alles dranzusetzen“. Diese Haltung ist wie eine Motte, die unsere Seele zerfrisst, die unsere Seele austrocknet.

Der Kampf gegen diese Unsicherheit und Isolierung, die uns für viele Scheinlösungen anfällig machen – wie die, welche Beatriz erwähnte –, muss auf verschiedenen Ebenen geführt werden. Ein Weg führt über Gesetze, die ein Existenzminimum schützen und gewährleisten, damit jede Familie und jeder Mensch sich durch Bildung und eine würdige Arbeit entfalten kann. Ein anderer Weg ist der, den das Zeugnis von Humberto und Claudia bekräftigte, als sie uns sagten, dass sie nach einer Weise suchten, die Liebe Gottes, die sie erfahren haben, im Dienst und in der Hingabe an die anderen weiterzugeben. Gesetze und persönliches Engagement sind ein gutes Binom, um die Spirale der Unsicherheit zu unterbrechen. Und ihr habt euch aufgerafft, ihr betet, ihr seid bei Jesus, ihr seid in das Leben der Kirche integriert. Ihr habt einen schönen Ausdruck verwendet: „Wir empfangen die Kommunion im schwachen, kranken, notleidenden, gefangenen Mitmenschen.“ Danke, danke.

Heutzutage sehen und erleben wir an verschiedenen Fronten, wie die Familie geschwächt wird, wie sie in Frage gestellt wird; wie man meint, sie sei ein bereits überholtes Modell und habe keinen Platz in unseren Gesellschaften, und wie unter dem Vorwand der Modernität immer stärker ein auf die Isolierung gegründetes Modell begünstigt wird. In unsere Gesellschaften – die sich als freie, demokratische, souveräne Gesellschaften bezeichnen – dringen ideologische Kolonialisierungen ein, die sie zerstören, und am Ende sind wir Kolonien von Ideologien, die die Familie, den Kern der Familie zerstören, der die Grundlage jeder gesunden Gesellschaft ist.

Selbstverständlich ist das Leben in der Familie nicht immer leicht, oft ist es schmerzvoll und mühsam, doch was ich mehr als einmal über die Kirche gesagt habe, kann man meines Erachtens auch auf die Familie beziehen: Mir ist eine verwundete Familie, die alle Tage versucht, die Liebe in all ihren Formen und Zeiten auszudrücken, lieber als eine Familie und eine Gesellschaft, die an Zurückgezogenheit krankt oder an der Bequemlichkeit, die Angst hat, zu lieben. Mir ist eine Familie, die ein ums andere Mal versucht, wieder neu zu beginnen, lieber als eine narzisstische und auf Luxus und Komfort versessene Familie und Gesellschaft. – „Wie viele Kinder habt ihr?“ – „Nein, wir haben keine, denn wir möchten natürlich gerne Urlaub machen und reisen, ich möchte mir ein Landhaus kaufen…“ Luxus und Komfort, und die Kinder müssen warten, und wenn ihr dann eins haben wollt, ist es schon zu spät. Wie schade, nicht wahr? Mir ist eine Familie mit einem von der Hingabe ermüdeten Gesicht lieber als eine Familie mit geschminkten Gesichtern, die keine Zärtlichkeit und kein Mitgefühl erfahren haben. Mir sind ein Mann und eine Frau – Herr Aniceto und seine Frau – lieber, denen das tägliche Ringen Falten ins Gesicht geschrieben hat und die sich seit über fünfzig Jahren immer noch lieben – hier haben wir sie –, und ihr Sohn hat die Lektion gelernt, er ist schon fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Das sind die Familien!  Als ich vorhin Herrn Aniceto und seine Frau fragte, wer in diesen über fünfzig Jahren mehr Geduld gehabt hat, antworteten sie: „Alle beide, Pater.“ Denn um in der Familie das zu erreichen, was sie erreicht haben, braucht es viel Geduld und Liebe, man muss einander verzeihen können. „Pater, eine perfekte Familie streitet niemals.“ Stimmt nicht! Es ist in Ordnung, dass ab und zu gestritten wird und dass auch mal die Teller fliegen; das ist in Ordnung, keine Angst! Der einzige Rat ist: Lasst den Tag nicht zu Ende gehen, ohne Frieden geschlossen zu haben. Denn wenn ihr den Tag im Krieg beendet, beginnt ihr den neuen Tag im „kalten Krieg“, und der kalte Krieg ist sehr gefährlich in der Familie, denn er höhlt von unten die Falten der ehelichen Treue aus. Danke für das Zeugnis, einander über fünfzig Jahre lang zu lieben! Vielen Dank!

Und da wir gerade über Falten sprechen – ich schweife etwas vom Thema ab –, kommt mir das Zeugnis einer großen Künstlerin, einer lateinamerikanischen Filmschauspielerin, in den Sinn. Als sich im Alter von etwa sechzig Jahren die ersten Falten auf ihrem Gesicht zeigten, riet man ihr, eine kleine „Korrektur“ vornehmen zu lassen, um weiter gut arbeiten zu können. Ihre Antwort war ganz eindeutig: „Diese Falten haben mich viel Arbeit, viel Mühe, viel Schmerz und ein erfülltes Leben gekostet; ich denke nicht im Traum daran, sie zu behandeln, sie sind die Spuren meiner Geschichte.“ Und sie blieb weiter eine große Künstlerin. In der Ehe geschieht dasselbe. Das Eheleben muss jeden Tag erneuert werden. Und wie ich vorhin sagte, bevorzuge ich faltige Familien mit Wunden und Narben, die aber weitergehen, weil diese Wunden, diese Narben, diese Falten die Frucht der Treue einer Liebe sind, die nicht immer leicht war. Die Liebe ist nicht leicht, sie ist nicht leicht, nein, aber sie ist das Schönste, was ein Mann und eine Frau einander schenken können, die wahre Liebe, für das ganze Leben.

 Ihr habt mich ersucht, für euch zu beten, und ich möchte gleich damit anfangen. Ihr, liebe Mexikaner, habt einen Vorteil, lauft mit Vorsprung. Ihr habt die Mutter: die Muttergottes von Guadalupe. Die Guadalupana wollte dieses Land besuchen, und das gibt uns die Gewissheit, ihre Fürsprache zu erhalten, damit dieser Traum, der Familie heißt, nicht durch Unsicherheit und Einsamkeit verloren geht. Sie ist Mutter und ist immer bereit, unsere Familien zu verteidigen und unsere Zukunft zu verteidigen; sie ist immer bereit, für uns „alles dranzusetzen“, indem sie uns ihren Sohn schenkt. Darum lade ich euch ein, so wie ihr gerade steht und ohne euch viel zu bewegen, einander die Hände zu reichen und gemeinsam zu ihr zu sagen: Gegrüßet seist du, Maria…

Und vergessen wir nicht den heiligen Josef! Schweigsam, fleißig, aber immer in vorderster Linie, immer da, um für seine Familie zu sorgen. Danke. Gott segne euch. Und betet für mich!

Und jetzt möchte ich im Rahmen dieses Festes der Familie die hier anwesenden Ehepaare einladen, im Schweigen ihre Eheversprechen zu erneuern. Und diejenigen, die verlobt sind, mögen um die Gnade einer treuen und von Liebe erfüllten Familie beten. Im Schweigen die Eheversprechen erneuern, und die Verlobten erbitten die Gnade einer treuen und von Liebe erfüllten Familie.

 



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