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PASTORALKONGRESS DER DIÖZESE ROM

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
 

Basilika St. Johann im Lateran
Montag, 19. Juni 2017

[Multimedia]


Wie einmal ein Priester gesagt hat: »Bevor ich anfange zu sprechen, möchte ich kurz etwas sagen.«

Ich möchte Kardinal Vallini für seine Worte danken und noch etwas hinzufügen, das er nicht sagen konnte, weil es geheim ist, aber der Papst kann es sagen. Als man mir nach der Wahl sagte, dass ich zuerst in die Paulinische Kapelle gehen solle und dann auf die Loggia, um die Menschen zu grüßen, da kam mir sofort der Name des Kardinalvikars in den Sinn: »Ich bin Bischof und es gibt einen Kardinalvikar…« Sofort. Ich habe es auch mit Sympathie gespürt. Und ich habe ihn zu mir gerufen und auf die andere Seite Kardinal Hummes, der während der Wahlgänge neben mir war und mir Dinge sagte, die mir geholfen haben.

Diese beiden haben mich begleitet, und von diesem Augenblick an habe ich mir gesagt: »Auf der Loggia mit meinem Vikar.« Dort, bei der Loggia. Von jenem Augenblick an hat er mich begleitet, und ich möchte ihm danken. Er hat sehr viele Tugenden und auch einen Sinn für Objektivität, der mir oft geholfen hat, denn manchmal »fliege« ich, und er ließ mich sehr liebevoll wieder »landen «… Ich danke Ihnen, Eminenz, für die Begleitung.

Aber Kardinal Vallini geht nicht in Rente, weil er Mitglied in sechs Kongregationen ist und weiter arbeiten wird, und das ist besser so, denn ein Neapolitaner ohne Arbeit wäre eine Katastrophe in der Diözese… [Der Papst und die Anwesenden lachen und applaudieren.] Ich möchte Ihnen öffentlich für ihre Hilfe danken. Danke! Und euch, einen guten Abend!

Ich danke für die Gelegenheit, diese Diözesantagung zu eröffnen, in der ihr ein Thema behandeln werdet, das für das Leben unserer Familien wichtig ist: die Eltern begleiten bei der Erziehung der heranwachsenden Kinder. In diesen Tagen werdet ihr über einige Schlüsselthemen nachdenken, die in gewisser Weise den Orten entsprechen, an denen unser Familie-Sein stattfindet: Zuhause, Schule, soziale Netzwerke, intergenerationale Beziehung, Prekarität des Lebens und familiäre Isolation. Zu diesen Themen gibt es Workshops.

Ich möchte gerne mit euch über einige »Voraussetzungen « sprechen, die uns bei dieser Reflexion helfen können. Oft sind wir uns nicht bewusst, dass der Geist, in dem wir nachdenken, genauso wichtig ist wie die Inhalte. (Ein tüchtiger Sportler weiß, dass das Aufwärmen genauso wichtig ist wie die anschließende Leistung.) Deshalb möchte dieses Gespräch uns in diesem Sinne helfen: ein »Aufwärmen«, und dann liegt es an euch, »auf dem Spielfeld vollen Einsatz zu zeigen«. Ich werde die Ausführungen in kleine Kapitel unterteilen.

1. Auf römisch!

Den ersten Schlüssel, um Zugang zu diesem Thema zu finden, wollte ich »in romanesco« nennen: im Dialekt der Römer. Nicht selten sind wir versucht, »im Allgemeinen«, »abstrakt« an etwas zu denken oder über etwas nachzudenken. An die Probleme, an die Situationen, an die Heranwachsenden denken… Und so fallen wir, ohne es zu merken, ganz in den Nominalismus. Wir möchten alles einschließen, aber erreichen nichts. Ich möchte euch heute einladen, über dieses Thema »im Dialekt« nachzudenken. Und das kostet beträchtliche Anstrengung, weil es von uns verlangt, an unsere Familien zu denken im Kontext einer Großstadt wie Rom – mit all ihrem Reichtum, den Chancen, der Verschiedenheit und zugleich mit all ihren Herausforderungen. Nicht, um sich zu verschließen und den Rest zu ignorieren (wir bleiben Italiener), sondern um die Reflexion und sogar die Momente des Gebets mit einem gesunden und anregenden Realismus anzugehen. Keine Abstraktionen, keine Verallgemeinerung, kein Nominalismus.

Das Leben der Familien und die Erziehung der Jugendlichen erfordert in einer großen Metropole wie dieser eine besondere Aufmerksamkeit als Ausgangsbasis und wir dürfen das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn es ist nicht dasselbe, in einem kleinen Dorf oder in einer großen Metropole zu erziehen und Familie zu sein. Ich sage nicht, dass es besser oder schlechter ist, es ist einfach anders. Die Komplexität der Hauptstadt erlaubt keine verkürzenden Synthesen, sondern sie regt uns vielmehr zu einem polyedrischen Denken an, in dem jedes Viertel und jedes Gebiet mit seinem eigenen Sein in der Diözese ein Echo findet und so die Diözese in jeder Gemeinde sichtbar, erfahrbar wird. Die Uniformität ist ein großer Feind.

Ihr erlebt die Spannungen dieser großen Stadt. Bei vielen meiner Pastoralbesuche hat man mir einige eurer alltäglichen, konkreten Erfahrungen vorgetragen: die Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeit (in manchen Fällen bis zu zwei Stunden, um hinzukommen); das Fehlen von engen Familienbanden aufgrund der Tatsache, dass man gezwungen war wegzuziehen, um Arbeit zu finden oder die Miete bezahlen zu können; immer »auf den Pfennig sehen«, um das Monatsende zu erreichen, weil das Leben an sich teurer ist (auf dem Land kann man besser zurechtkommen); zu wenig Zeit, um die Nachbarn dort, wo wir wohnen, kennenzulernen; sehr oft die Kinder allein zuhause lassen zu müssen… Und so könnten wir fortfahren und viele Situationen aufzählen, die das Leben unserer Familien betreffen. Aus diesem Grund sollen die Reflexion und das Gebet »in römischem Dialekt« geschehen, im Konkreten, mit all diesen konkreten Dingen, mit der Gestalt von ganz konkreten Familien und darüber nachdenkend, wie ihr einander helfen könnt, eure Kinder in dieser Realität zu formen.

Der Heilige Geist ist der große Initiator und Anreger von Prozessen in unseren Gesellschaften und Situationen. Er ist der große Lenker von verwandelnden und heilsamen Dynamiken. Habt keine Angst mit ihm in euren Stadtvierteln »auf dem Weg zu sein« und darüber nachzudenken, wie man eine Begleitung für die Eltern und die Heranwachsenden anregen kann. Das heißt, ganz konkret.

2. Verbunden

Neben dem vorhergehenden Aspekt möchte ich einen weiteren wichtigen Aspekt behandeln. Die heutige Situation lässt im Leben von uns allen und besonders in unseren Familien langsam die Erfahrung zunehmen, uns »entwurzelt « zu fühlen. Man spricht von einer »flüssigen Gesellschaft« – und das ist so –, aber heute möchte ich euch in diesem Kontext das zunehmende Phänomen der »entwurzelten Gesellschaft « vor Augen stellen, das heißt Menschen, Familien, die nach und nach ihre Bindungen verlieren, jenes Lebensgefüge, das so wichtig ist, damit wir uns als Teil voneinander fühlen, als mit  den anderen an einem gemeinsamen Projekt Teilnehmende.

Es ist die Erfahrung, zu wissen, dass wir zu anderen »gehören« (im edelsten Sinn des Wortes). Es ist wichtig, diese Atmosphäre der Entwurzelung zu berücksichtigen, weil sie nach und nach in unseren Blick übergeht und besonders in das Leben unserer Kinder eindringt. Eine entwurzelte Kultur, eine entwurzelte Familie ist eine Familie ohne Geschichte, ohne Erinnerung, ohne Wurzeln eben. Und wenn es keine Wurzeln gibt, dann kann jeder Windhauch dich mitschleifen. Daher müssen wir als Eltern, als Familie, als Hirten zuerst an die Orte denken, wo wir uns »verwurzeln « können, wo wir Bindungen knüpfen, Wurzeln finden können, wo wir jenes lebensnotwendige Netz wachsen lassen können, das es uns erlaubt, uns als »Zuhause« zu fühlen. Heute scheinen uns die sozialen Netzwerke diesen Raum des »Netzes« anzubieten, der Vernetzung mit anderen, und auch unsere Kinder fühlen sich durch sie als Teil einer Gruppe. Aber das Problem, das sie aufgrund ihrer Virtualität mit sich bringen, ist, dass sie uns wie »in der Luft« bleiben lassen. Ich habe gesagt »flüssige Gesellschaft«, wir könnten auch sagen »gasförmige Gesellschaft« und daher sehr »flüchtige« Gesellschaft: »flüchtige Gesellschaft «. Es gibt keine schlimmere Entfremdung für einen Menschen, als zu spüren, ohne Wurzeln zu sein, zu niemandem zu gehören. Dieses Prinzip ist sehr wichtig, um die heranwachsenden Jugendlichen zu begleiten.

Sehr oft verlangen wir von unseren Kindern eine übertriebene Ausbildung in einigen Bereichen, die wir als wichtig für ihre Zukunft betrachten. Wir lassen sie viel lernen, damit sie das Beste geben. Aber wir messen der Tatsache, dass sie ihre Heimat, ihre Wurzeln kennen, nicht dieselbe Bedeutung zu. Wir enthalten ihnen die Kenntnis von den Genies und den Heiligen vor, die uns geformt haben. Ich weiß, dass es einen Workshop zum intergenerationalen Dialog, zum Platz der Großeltern gibt. Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber ich spüre es als etwas, das der Heilige Geist mir dringend ans Herz legt: Damit unsere jungen Leute Visionen haben, »Träumende « sein, kühn und mutig kommende Zeiten bewältigen können, ist es notwendig, dass sie auf die prophetischen Träume ihrer Vorfahren hören (vgl. Joël 3,1). Wenn wir wollen, dass unsere Kinder für die Zukunft ausgebildet und vorbereitet sind, dann wird ihnen das nicht gelingen, wenn sie nur Sprachen lernen (um ein Beispiel zu nennen).

Es ist notwendig, dass sie »sich anbinden«, dass sie ihre Wurzeln kennen. Nur so können sie »weit oben fliegen«, andernfalls werden sie von den »Visionen« der anderen ergriffen. Und darauf möchte ich zurückkommen. Vielleicht bin ich darauf fixiert, aber… Die Eltern müssen den Kindern Raum lassen, damit sie mit den Großeltern sprechen können. Häufig ist der Großvater oder die Großmutter im Altenheim und man besucht sie nicht… Sie müssen mit ihnen sprechen. Auch indem sie die Eltern übergehen, aber sie müssen von den Großeltern die Wurzeln übernehmen. Die Großeltern haben diese Eigenschaft der Weitergabe der Geschichte, des Glaubens, der Zugehörigkeit.

Und sie tun das mit der Weisheit derer, die an der Schwelle stehen, die bereit sind zu gehen. Ich komme, das habe ich einige Male gesagt, auf den Abschnitt aus dem Propheten Joël (3,1) zurück: »Eure Alten werden Träume haben und eure Söhne und Töchter werden Propheten sein.« Und ihr seid die verbindende Brücke. Heute lassen wir die Großeltern nicht mehr träumen, wir grenzen sie aus. Diese Kultur grenzt die Großeltern aus, weil sie nicht produktiv sind: das ist die »Wegwerfkultur«. Aber die Großeltern können nur dann träumen, wenn sie dem neuen Leben begegnen, dann träumen sie, sprechen sie…  Aber denkt an Simeon! Denkt an jene heilige Plaudertasche Anna, die von einem zum anderen ging und sagte: »Er ist es! Er ist es!« Und das ist schön, das ist schön. Die Großeltern sind es, die träumen und die den Kindern jene Zugehörigkeit geben, die sie brauchen. Ich möchte, dass ihr in diesem intergenerationalen Workshop eine Gewissenserforschung darüber vornehmt. Die konkrete Geschichte der Großeltern finden. Und sie nicht außen vor lassen. Ich glaube, das habe ich schon einmal gesagt, aber mir kommt eine Geschichte in den Sinn, die mir als Kind eine meiner Großmütter beigebracht hat. Es gab einmal in einer Familie einen verwitweten Großvater. Er lebte in der Familie, aber er war alt geworden, und wenn sie aßen, dann rann ihm ein wenig die Suppe herunter oder der Speichel und er beschmutzte sich etwas. Der Vater hat entschieden, dass er allein in der Küche essen sollte. »Dann können wir Freunde einladen…« So geschah es. Einige Tage später kommt er aus der Arbeit nach Hause und sieht das Kind, das mit einem Hammer, Nägeln, Holz spielt… »Was machst du da?« – »Einen Tisch.« – »Einen Tisch? Warum?« – »Einen Esstisch.« – »Aber warum?« – »Damit du dort allein essen kannst, wenn du alt geworden bist.« Dieses Kind hatte intuitiv verstanden, wo die Wurzeln waren.

3. In Bewegung

Die Heranwachsenden erziehen, in Bewegung sein. Die Zeit des Heranwachsens ist eine Übergangsphase nicht nur im Leben eurer Kinder, sondern im Leben der ganzen Familie – die ganze Familie ist in einer Übergangsphase –, das wisst ihr sehr gut und lebt es; und als solche, als Ganze, müssen wir sie angehen. Es ist eine Brückenphase, und daher sind die Jugendlichen weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Sie sind auf dem Weg, »im Übergang«. Sie sind keine Kleinkinder (und wollen nicht als solche behandelt werden) und sie sind keine Erwachsenen (aber sie wollen als solche behandelt werden, besonders wenn es um Vorrechte geht). Sie leben genau diese Spannung, vor allem im eigenen Inneren und dann gegenüber denen, die ihnen nahestehen.[1]

Sie suchen stets die Auseinandersetzung, sie fragen, diskutieren über alles, suchen Antworten. Und manchmal hören sie nicht auf die Antworten und stellen eine weitere Frage, bevor die Eltern eine Antwort gegeben haben… Sie gehen durch verschiedene Gemütszustände und die Familie mit ihnen. Aber erlaubt mir zu sagen, dass es eine kostbare Zeit im Leben eurer Kinder ist. Eine schwierige Zeit, das ja. Eine Zeit der Veränderungen und der Instabilität, ja. Eine Phase, die zweifelsohne große Risiken birgt. Aber vor allem ist es eine Zeit des Wachsens für sie und für die ganze Familie. Die Adoleszenz ist keine Krankheit und wir dürfen sie nicht behandeln, als wäre sie dies. Ein Kind, das seine Adoleszenz erlebt (wie schwierig das auch für die Eltern sein mag), ist ein Kind mit Zukunft und Hoffnung. Oft mache ich mir Sorgen über die heutige Tendenz, unsere Jugendlichen früh zu »medikalisieren«. Scheinbar lässt sich alles mit der Verabreichung von Medikamenten lösen oder indem man alles unter dem Slogan kontrolliert: »die Zeit optimal nutzen«, und das Ergebnis ist, dass der Terminkalender der Kinder schlimmer aussieht als der einer hochrangigen Führungskraft.

Daher betone ich erneut: Die Adoleszenz ist keine Krankheit, die wir bekämpfen müssen. Sie  ist Teil des ganz normalen, natürlichen Wachstums im Leben unserer Kinder. Wo Leben ist, da ist Bewegung, wo Bewegung ist, da gibt es Veränderungen, Suche, Unsicherheiten, da ist Hoffnung, Freude und auch Furcht und Trostlosigkeit. Wir müssen unsere Unterscheidung gut einordnen im Rahmen von zu erwartenden Lebensprozessen. Dabei gibt es eine Bandbreite, die man kennen muss, um sich nicht zu sehr zu beunruhigen, aber auch um nicht zu nachlässig zu sein, sondern um begleiten und das Wachsen unterstützen zu können. Es ist nicht alles gleichgültig und genauso wenig ist alles gleich wichtig. Deshalb muss man entscheiden, welche Kämpfe auszufechten sind und welche nicht. Dabei ist es sehr nützlich, auf Ehepaare zu hören, die Erfahrung haben, die uns zwar nie ein Rezept geben werden, die uns aber mit ihrem Zeugnis helfen werden, diese oder jene Bandbreite oder Skala von Verhaltensweisen zu kennen.

Unsere Jungen und Mädchen wollen logischerweise Protagonisten sein und sich als solche fühlen. Sie lieben es überhaupt nicht, herumkommandiert zu werden oder »Befehlen« zu gehorchen, die von den Erwachsenen kommen (sie  folgen den Spielregeln ihrer »Komplizen«). Sie suchen jene komplizenhafte Selbständigkeit, die ihnen das Gefühl gibt, dass sie »ihr eigener Herr sind«. Und hier müssen wir auf die Onkel und Tanten aufpassen, vor allem auf die, die keine Kinder haben oder nicht verheiratet sind… Die ersten Schimpfworte habe ich von einem unverheirateten Onkel gelernt [Auf Italienisch gebraucht der Papst für »unverheirateter Onkel« das Wortspiel »zio zitello«, was die Anwesenden zum Lachen bringt.] Um die Sympathie der Neffen, der Nichten zu gewinnen, handeln die Onkel und Tanten oft nicht gut. Da gab es den Onkel, der uns heimlich Zigaretten gab… Das war zu jener Zeit. Und jetzt… Ich sage nicht, dass sie schlecht sind, aber man muss aufpassen. Diese Suche nach Selbstständigkeit, die die Jungen und Mädchen haben wollen, ist eine gute Gelegenheit vor allem für die Schulen, die Pfarreien und die kirchlichen Bewegungen. Sie zu Aktivitäten anregen, die sie herausfordern, bei denen sie sich als Protagonisten fühlen. Sie brauchen das, helfen wir ihnen dabei! Sie suchen auf viele verschiedene Arten und Weisen jenes »Rauschgefühl«, das bewirkt, dass sie sich lebendig fühlen. Also, geben wir es ihnen! Regen wir all das an, was ihnen hilft, ihre Träume in Projekte zu verwandeln. Und sie sollen entdecken, dass das gesamte Potential, über das sie verfügen, eine Brücke ist, ein Übergang zu einer Berufung (im weitesten und schönsten Sinn des Wortes). Stellen wir ihnen hohe Ziele und große Herausforderungen vor Augen und helfen wir ihnen, sie zu verwirklichen, ihre Ziele zu erreichen! Lassen wir sie nicht allein!

Deshalb sollen wir sie mehr herausfordern, als sie uns herausfordern. Lassen wir nicht zu, dass sie das »Rauscherlebnis« von anderen erhalten, die nichts anderes tun, als ihr Leben aufs Spiel zu setzen: Geben wir ihnen das! Aber das richtige »Rauscherlebnis«, das diesen Wunsch erfüllt, sich zu bewegen, voranzukommen. Wir sehen das in vielen Pfarreien, die diese Fähigkeit haben, die Heranwachsenden zu »packen« …: »Diese drei Ferientage wollen wir in den Bergen verbringen, etwas tun… Oder wir gehen und streichen diese Schule in einem armen Stadtviertel, die es nötig hat…« Sie zu Protagonisten von etwas machen.

Dafür ist es erforderlich, Erzieher zu finden, die in der Lage sind, sich für das Wachstum der Jugendlichen einzusetzen. Es erfordert Erzieher, die von der Liebe und der Leidenschaft angetrieben werden, in ihnen das Leben des Geistes Jesu wachsen zu lassen, zu zeigen, das Christsein heute Mut erfordert und etwas Schönes ist. Um die Jugendlichen von heute zu erziehen, dürfen wir nicht die Modelle einer rein schulischen, nur aus Ideen bestehenden Bildung weiterverwenden. Nein. Man muss dem Rhythmus ihres Wachstums folgen. Es ist wichtig, ihnen zu helfen, Selbstachtung zu gewinnen, zu glauben, dass sie wirklich erfolgreich sein können in dem, was sie sich vornehmen. In Bewegung, immer.

4. Eine integrale Formung

Dieser Prozess macht es erforderlich, die unterschiedlichen Ausdrucksweisen, die uns als Personen auszeichnen, gleichzeitig und integral zu entwickeln. Das heißt: Wir müssen unsere Jugendlichen lehren, all das, was sie sind und tun, zu integrieren. Wir könnten dies als eine sozialintegrative Alphabetisierung bezeichnen, das heißt eine Formung, die auf den Intellekt (Kopf), die Gefühle (Herz) und das Tun (Hände) gegründet ist. Das wird unseren Jugendlichen die Möglichkeit zu einem harmonischen Wachstum nicht nur auf persönlicher, sondern zugleich auf sozialer Ebene geben. Es ist dringend notwendig, Orte zu schaffen, an denen die soziale Zersplitterung nicht das dominierende Schema ist. Zu diesem Zweck muss man ihnen beibringen, zu denken, was man spürt und tut; zu spüren, was man denkt und tut; zu tun, was man denkt und spürt. Das heißt, die drei Ausdrucksweisen zu integrieren. Eine Dynamik von Fähigkeiten, die in den Dienst des Menschen und der Gesellschaft gestellt wird. Das wird bewirken, dass unsere Jugendlichen sich in ihren Wachstumsprozessen als aktiv und als Protagonisten sehen und sich auch gerufen fühlen, am Aufbau der Gemeinschaft mitzuwirken.

Sie wollen Protagonisten sein: Geben wir ihnen den Raum, damit sie Protagonisten sind, natürlich indem wir ihnen zugleich Orientierung geben sowie die geeigneten Mittel, um das ganze Wachstum zu entwickeln. Daher bin ich der Ansicht, dass die harmonische Integration der verschiedenen Arten von Wissen – des Verstandes, des Herzens und der Hände – ihnen helfen wird, ihre Persönlichkeit aufzubauen. Oft denken wir, dass Bildung aus der Vermittlung von Kenntnissen besteht, und lassen auf dem Weg emotionale Analphabeten und Jugendliche mit vielen unausgeführten Plänen zurück, weil sie niemanden gefunden haben, der sie das »Tun« lehrt. Wir haben die Bildung auf das Gehirn konzentriert und dabei das Herz und die Hände vernachlässigt. Und das ist auch eine Art gesellschaftlicher Zersplitterung.

Wenn im Vatikan jemand seinen Dienst in der Schweizergarde beendet, dann empfange ich ihn, jeden einzelnen, diejenigen, die ihren Abschied nehmen. Vorgestern habe ich sechs von ihnen empfangen. Jeden einzeln. »Was tust du, was werdet ihr tun…« Ich danke ihnen für ihren Dienst. Einer von ihnen hat mir gesagt: »Ich werde Zimmermann werden. Ich möchte Schreiner werde, aber ich werde Zimmermann. Denn  mein Vater hat mir darin viel beigebracht, und auch mein Großvater.« Der Wunsch, etwas zu »tun«. Dieser junge Mann ist gut erzogen worden mit der Sprache des Tuns. Und auch das Herz ist gut, denn er dachte an den Vater und an den Großvater: ein zuneigungsvolles, gutes Herz. Lernen. »wie man etwas tut…« Das hat mich beeindruckt.

5. Ja zum Heranwachsen, nein zum Konkurrenzkampf

Als letzter Aspekt ist es wichtig, dass wir über eine uns umgebende Dynamik nachdenken, die uns alle herausfordert. Es ist interessant zu beobachten, wie die Jungen und Mädchen »groß« und die »Großen« jugendlich sein wollen oder es geworden sind.

Wir können diese Kultur nicht ignorieren, insofern sie die Luft ist, die wir alle atmen. Heute gibt es eine Art Wettstreit zwischen Eltern und Kindern: Er ist anders als früher, in denen normalerweise eine Auseinandersetzung zwischen beiden stattfand. Heute sind wir von der Auseinandersetzung zur Konkurrenz übergegangen, was zwei verschiedene Dinge sind. Es handelt sich um zwei verschiedene Dynamiken des Geistes. Unsere Kinder treffen heute auf viel Konkurrenz und auf wenig Menschen, mit denen sie sich auseinandersetzen können. Die Erwachsenenwelt hat als Paradigma und Erfolgsmodell die »ewige Jugend« verinnerlicht. Wachsen, alt werden, »reif werden« scheint etwas Schlechtes zu sein. Es ist Synonym für ein frustriertes oder aufgebrauchtes Leben. Heute scheint alles maskiert und verschleiert werden zu müssen. Als hätte die bloße Tatsache zu leben keinen Sinn. Der äußere Schein, nicht alt werden, sich schminken… Mir tut es leid, wenn ich jene sehe, die sich die Haare färben.

Wie traurig ist es, dass jemand sein Herz »liften« lassen will! Und heute wird das Wort »Lifting « häufiger gebraucht als das Wort »Herz«! Wie schmerzlich ist es, dass jemand die »Falten« so vieler Begegnungen, Freuden und Traurigkeiten auslöschen will! Ich muss daran denken, was die große Anna Magnani gesagt hat, als man ihr zu einem Lifting riet: »Nein, diese Falten haben mich das ganze Leben gekostet: Sie sind kostbar!« In gewisser Hinsicht ist dies eine der gefährlichsten »unbewussten« Risiken in der Erziehung unserer Heranwachsenden: Sie von ihren Wachstumsprozessen fernzuhalten, weil die Erwachsenen ihren Platz einnehmen. Und es gibt sehr viele heranwachsende Eltern, sehr viele. Erwachsene, die keine Erwachsenen sein wollen und die für immer die Heranwachsenden spielen wollen. Diese »Ausgrenzung« kann die natürliche Tendenz bei den Jugendlichen verstärken, sich zu isolieren, oder ihre Wachstumsprozesse aufgrund von mangelnder Auseinandersetzung bremsen. Es gibt Konkurrenzkampf, aber keine Auseinandersetzung.

6. Die geistliche »Völlerei«

Ich möchte nicht schließen ohne diesen Aspekt, der ein Schlüsselargument sein kann, das sich durch alle Workshops zieht, die ihr veranstaltet: er ist transversal. Es ist das Thema des einfachen Lebensstils. Wir leben in einem Kontext des sehr starken Konsumismus… Und zwischen dem eben Gesagten und dem Konsumismus gibt es eine Verbindung: Nach Nahrungsmitteln, Medikamenten und Kleidung, die wesentlich für das Leben sind, sind die nächsthöchsten Ausgaben für die Schönheitspflege, für Kosmetika bestimmt.

Das sagt die Statistik! Kosmetika. Es ist schlimm, das zu sagen. Und Kosmetik, die früher eher eine Sache der Frauen war, ist jetzt bei beiden Geschlechtern gleich. Nach den Grundausgaben ist der erste Posten die Kosmetik. Und dann die Haustiere: Futter, Tierarzt… Das sind Statistiken. Aber das ist ein anderes Thema, die Haustiere, das ich jetzt nicht behandeln werde: später werden wir daran denken. Aber kommen wir zum Thema der Einfachheit zurück. Wir leben, so habe ich gesagt, in einem Kontext des starken Konsumismus. Es scheint, dass wir dazu gedrängt werden, Konsum zu konsumieren, was heißen soll, dass es wichtig ist, immer zu konsumieren.

Früher sagte man von den Menschen, die dieses Problem hatten, dass sie abhängig waren vom Kaufen. Heute sagt man das nicht mehr: alle sind wir diesem Rhythmus des Konsumismus unterworfen. Daher ist es dringend notwendig, jenes so wichtige und unterschätzte geistliche Prinzip zurückzugewinnen: die Einfachheit. Wir sind in einen Strudel des Konsums geraten und werden verleitet zu glauben, dass wir so viel wert sind, wie wir produzieren und konsumieren können, wie wir haben können. Zu einem einfachen Lebensstil zu erziehen, das ist ein unvergleichlicher Reichtum. Es weckt den Einfallsreichtum und die Kreativität, es schafft Möglichkeiten für die Phantasie und macht insbesondere offen für die solidarische Arbeit im Team. Es macht offen für die anderen. Es gibt eine Art »geistliche Völlerei«. Diese Haltung der Gefräßigen, die statt zu essen, alles verschlingen, was in ihrer Nähe ist (sie scheinen sich beim Essen vollzustopfen).

Ich glaube, dass es uns gut tut, uns als Familie besser zu erziehen hinsichtlich dieser »Völlerei« und der Einfachheit Raum zu geben als Weg, um einander zu begegnen, Brücken zu bauen, Räume zu eröffnen, mit den anderen und für die anderen zu wachsen. Das kann nur der tun, der einfach zu leben weiß, andernfalls ist er bloß der »Völlerei« verfallen.

In Amoris laetitia habe ich euch gesagt: »Die Geschichte einer Familie ist durchfurcht von Krisen aller Art, die auch Teil ihrer dramatischen Schönheit sind. Man muss helfen zu entdecken, dass eine überwundene Krise nicht zu einer weniger intensiven Beziehung führt, sondern dazu, den Wein der Verbindung zu verbessern, sich setzen und reifen zu lassen. Man lebt nicht zusammen, um immer weniger glücklich zu sein, sondern um zu lernen, in einer neuen Weise glücklich zu sein, ausgehend von den Möglichkeiten, die jede neue Phase erschließt« (Nr. 232). Es scheint mir wichtig zu sein, die Erziehung der Kinder von dieser Perspektive ausgehend zu leben, als einen Ruf des Herrn an uns als Familie, aus dieser Übergangsphase eine Phase des Wachstums zu machen, um zu lernen, das Leben, das er uns schenkt, besser zu verkosten. Das wollte ich euch zu diesem Thema sagen. [Nach den Dankesworten von Kardinal Vallini segnete der Papst die Anwesenden und sagte abschließend:] Vielen Dank! Arbeitet gut! Ich wünsche euch das Beste. Und voran!


Fußnoten

[1] »Für junge Menschen ist die Zukunft lang und die Vergangenheit kurz. Denn am Beginn des Morgens gibt es vom Tag nichts, an das man sich erinnern könnte, während man alles erhoffen kann. Sie lassen sich aus dem genannten Grund leicht täuschen, das heißt sie hoffen leicht. Und sie sind mutiger, denn sie sind stürmisch und hoffen leicht. Die erste dieser Eigenschaften verhindert, dass sie Angst haben, die zweite macht sie vertrauensvoll. Denn niemand fürchtet sich, wenn er zornig ist, und etwas Gutes zu erhoffen, schenkt Vertrauen. Und sie empören sich leicht« (Aristoteles, Rhetorik, II,12,2)

 

 


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