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APOSTOLISCHE REISE DES HEILIGEN VATERS 
NACH LITAUEN, LETTLAND UND ESTLAND

[22.-25. SEPTEMBER 2018]

BEGEGNUNG MIT DEN JUGENDLICHEN

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS

Platz vor der Kathedrale von Vilnius (Litauen)
Samstag, 22. September 2018

[Multimedia]


 

Vielen Dank, Monika und Jonas, für euer Zeugnis! Ich habe es wie ein Freund aufgenommen, so als ob wir uns nach einer Vorstellung im „Jaunimo teatras“ in einer der Bars zusammengesetzt und uns bei einem Bier oder einer Gira über die Dinge des Lebens ausgetauscht hätten.

Aber euer Leben ist kein Theaterstück, es ist real, konkret, wie das eines jeden von uns, der hier ist, auf diesem wunderschönen Platz zwischen diesen beiden Flüssen. Und vielleicht hilft uns das alles, eure Lebensgeschichten noch einmal anzuschauen und in ihnen die Gegenwart Gottes zu entdecken... denn Gott tritt immer in unserem Leben auf. Er tritt immer auf. Ein großer Philosoph hat einmal gesagt: „Ich habe Angst, wenn Gott auftritt. Ich habe Angst, es nicht zu merken!“.

Wie diese Kathedrale habt ihr Situationen erlebt, die euch haben zusammenbrechen lassen, Feuersbrünste, nach denen es so aussah, als könntet ihr euch nicht wieder davon erholen. Mehrmals wurde dieses Gotteshaus ein Fraß der Flammen, es brach zusammen, und dennoch gab es da immer wieder diejenigen, die beschlossen, es wiederaufzurichten; sie ließen sich nicht von Schwierigkeiten unterkriegen, sie ließen ihre Arme nicht sinken. Es gibt ein schönes Lied bei den Alpinisten, das geht so: „In der Kunst des Aufstiegs liegt das Geheimnis nicht darin, nicht zu fallen, sondern darin, nicht liegen zu bleiben.“ Immer von Neuem beginnen und so aufsteigen. Wie diese Kathedrale. Auch die Freiheit eures Vaterlandes ist ein Verdienst derer, die sich von Terror und Unglück nicht entmutigen ließen. Das Leben, die gesundheitliche Verfassung und der Tod deines Vaters, Monika; deine Krankheit, Jonas, hätten euch völlig aus der Bahn werfen können... Und dennoch seid ihr hier, teilt im Glauben eure Erfahrungen mit uns und lasst uns erkennen, dass Gott euch die Gnade gegeben hat, all das zu ertragen, wieder aufzustehen und im Leben weiterzugehen.

Und ich frage mich: Wie wurde diese Gnade Gottes über euch ausgegossen? Nicht aus der Luft; sie wurde nicht hergezaubert. Es gibt keinen Zauberstab für das Leben. Es ist durch Menschen geschehen, die euch auf eurem Lebensweg begegnet sind, gute Menschen, die euch mit ihrer Glaubenserfahrung genährt haben. Es gibt im Leben immer Menschen, die uns an der Hand nehmen, um uns zu helfen und aufzurichten. Monika, deine Großmutter und deine Mutter, die Franziskaner-Pfarrei, waren für dich wie der Zusammenfluss dieser beiden Ströme: so wie die Vilnia in die Neris einmündet, hast du dich von diesem Gnadenstrom mitziehen lassen, bist ein Teil davon geworden. Denn der Herr rettet uns, indem er uns zum Teil eines Volkes macht. Der Herr rettet uns, indem er uns Teil eines Volkes werden lässt. Er fügt uns in ein Volk ein, und schließlich wird unsere Identität die Zugehörigkeit zu einem Volk sein. Niemand kann sagen: „Ich rette mich selbst“, wir sind alle miteinander verbunden, wir sind alle „in einem Netzwerk“. Gott wollte in diese Dynamik der Beziehungen eintreten, er zieht uns innerhalb einer Gemeinschaft an sich und verleiht unserem Leben so den eigentlichen Sinn wirklicher Identität und Zugehörigkeit (vgl. Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 6). Auch für dich, Jonas, wurden andere, deine Frau und das Versprechen, das du am Tag der Hochzeit gegeben hast, zu einem Grund, weiterzumachen, zu kämpfen, zu leben. Lasst nicht zu, dass die Welt euch weismacht, es sei besser, allein durchs Leben zu gehen. Allein kommt man nie an. Ja, du kannst es erreichen, einen Erfolg im Leben zu haben – aber ohne Liebe, ohne Freunde, ohne Zugehörigkeit zu einem Volk, ohne jene so schöne Erfahrung, etwas gemeinsam zu wagen. Man kann nicht alleine vorangehen. Gebt nicht der Versuchung nach, um euch selbst zu kreisen und euren Bauch zu betrachten. Gebt der Versuchung nicht nach, angesichts von Schmerzen, Schwierigkeiten oder vorübergehendem Erfolg egoistisch oder oberflächlich zu werden. Lasst uns noch einmal bekräftigen, „was Anderen geschieht, geschieht mir“; lasst uns gegen den Strom jenes Individualismus schwimmen, der uns isoliert, der uns egozentrisch macht, der uns eitel macht und der nur um Selbstdarstellung und eigenes Wohlbefinden besorgt ist. Stets besorgt um sein Image, um sein Aussehen. Das Leben vor dem Spiegel ist hässlich, wirklich hässlich. Dagegen ist das Leben mit den anderen schön, in der Familie, mit den Freunden, im Ringen meines Volkes … So ist das Leben schön!

Wir sind Christen und wollen nach Heiligkeit streben. Strebt nach Heiligkeit, indem ihr von der Begegnung und Gemeinschaft mit anderen ausgeht, und achtet auf ihre Bedürfnisse (vgl. ebd., 146). Unsere wahre Identität setzt die Zugehörigkeit zu einem Volk voraus. Es gibt keine Identität aus dem „Labor“. Es gibt weder „destillierte“, noch „reinrassige“ Identitäten. Die gibt es nicht. Es gibt die Identität des Voranschreitens miteinander, des gemeinsamen Ringens, des Sich-einander-Liebens. Es gibt die Identität, zu einer Familie zu gehören, zu einem Volk. Es gibt die Identität, die dir Liebe schenkt, Zartheit, eine Sorge für die anderen … Es gibt eine Identität, die dir die Kraft zu kämpfen gibt und zugleich die Zartheit zu liebkosen. Jeder von uns kennt die Schönheit und auch die Ermüdung – es ist schön, dass die jungen Menschen ermüden, das ist ein Zeichen, dass sie arbeiten – und jeder kennt oft auch den Schmerz, zu einem Volk zu gehören, ihr kennt das. Hier liegt unsere Identität; wir sind keine Menschen ohne Wurzeln. Nein, wir sind keine Menschen ohne Wurzeln!

Ihr beide habt auch von eurer Zugehörigkeit zu einem Chor, vom Gebet in der Familie, von der Hl. Messe, der Katechese und der Hilfe für die Bedürftigen gesprochen; das sind mächtige Waffen, die der Herr uns gibt. Gebet und Gesang, um sich nicht in der Immanenz dieser Welt zu verschließen: durch eure Sehnsucht nach Gott seid ihr aus euch selbst herausgegangen und konntet mit den Augen Gottes erkennen, was in eurem Herzen geschah (vgl. ebd., 147); durch die Musik öffnet ihr euch dem Zuhören und der Innerlichkeit, ihr werdet dadurch in eurer Empfindsamkeit berührt, und das ist immer eine gute Voraussetzung für den Weg der Unterscheidung (vgl. Jugendsynode, Instrumentum laboris, 162). Es ist wahr, dass das Gebet eine Erfahrung „geistlichen Kampfes“ sein kann, aber dort lernen wir, auf den Geist zu hören, die Zeichen der Zeit zu verstehen und neue Kraft zu tanken, um das Evangelium auch heute weiter zu verkünden. Wie sonst könnten wir angesichts unserer eigenen und fremder Probleme, angesichts der Schrecken der Welt gegen die Entmutigung kämpfen? Wie könnten wir ohne Gebet glauben, dass eben nicht alles von uns abhängt, dass wir angesichts der allgegenwärtigen Nöte nicht auf uns allein gestellt sind? „Jesus und ich, absolute Mehrheit!“ Vergesst das nicht, das hat ein Heiliger gesagt, der heilige Alberto Hurtado. Die Begegnung mit dem Herrn, mit seinem Wort, mit der Eucharistie erinnert uns daran, dass es nicht auf die Stärke des Gegners ankommt; es spielt keine Rolle, ob „Žalgiris Kaunas“ oder „Vilnius Rytas“ auf dem ersten Platz ist [Applaus, Lachen] … Übrigens, ich frage euch: Wer ist der Erste? [Lachen]. Es spielt keine Rolle, wer der Erste ist; es kommt nicht auf das Ergebnis an, sondern entscheidend ist, dass der Herr mit uns ist.

Die Erfahrung, anderen zu helfen, hat auch euch geholfen. Ihr habt entdeckt, dass es in unserer Nähe Menschen gibt, denen es schlecht geht, manchmal noch viel schlechter als uns. Monika, du hast uns von deiner Arbeit mit behinderten Kindern erzählt. Wenn wir die Zerbrechlichkeit anderer sehen, werden wir mit der Realität konfrontiert und davon abgehalten, ständig unsere eigenen Wunden zu lecken. Es ist hässlich, ständig zu jammern. Es ist hässlich, das Leben damit zu verbringen, seine Wunden zu lecken! Wie viele junge Menschen verlassen ihr Land aus Mangel an Möglichkeiten! Wie viele sind Opfer von Depressionen, Alkohol und Drogen! Ihr versteht das gut. Es gibt so viele einsame ältere Menschen, die niemand haben, mit dem sie die Gegenwart teilen können, und die Angst davor haben, dass die Vergangenheit zurückkehrt. Ihr jungen Menschen könnt auf diese Herausforderungen mit eurem Dasein und mit der Begegnung zwischen euch und anderen antworten. Jesus lädt uns ein, aus uns selbst herauszugehen und das Risiko der Begegnung mit anderen – „von Angesicht zu Angesicht“ – einzugehen. Es ist wahr, dass der Glaube an Jesus oft bedeutet, einen Sprung ins Ungewisse zu wagen, und das macht Angst. Andere Male führt der Glaube dazu, dass wir uns selbst hinterfragen, unsere gewohnten Vorstellungen aufgeben, und das kann für uns leidvoll sein, und wir können dabei versucht sein, mutlos zu werden. Seid dennoch mutig! Die Nachfolge Jesu ist ein spannendes Abenteuer, das unser Leben mit Sinn erfüllt, das uns erlaubt, uns als Teil einer Gemeinschaft zu erfahren, die uns ermutigt, einer Gemeinschaft, die uns begleitet und uns dazu bringt, uns für etwas zu engagieren. Liebe Jugendliche, es lohnt sich Christus zu folgen, es lohnt sich! Fürchten wir uns nicht, an der Revolution teilzunehmen, zu der er uns einlädt: der Revolution der Zärtlichkeit (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 88).

Wenn es sich beim Leben um ein Theaterstück oder ein Videospiel handeln würde, wäre es auf eine bestimmte Zeit, auf einen Anfang und ein Ende festgelegt, wo der Vorhang fällt oder jemand das Spiel gewinnt. Aber das Leben kennt eine andere Art von Zeit. Es bemisst sich nicht nach den Zeiten des Theaters oder des Videospiels. Das Leben folgt einem eigenen Rhythmus, der mit dem Herzen Gottes in Beziehung steht; manchmal kommt man voran, manchmal weicht man zurück, man probiert und sucht Wege, man ändert etwas. Die Unentschlossenheit scheint von der Angst zu kommen, dass der Vorhang fallen könnte oder dass uns die Stoppuhr aus dem Spiel wirft und daran hindert, im Spiel eine Runde weiterzukommen. Das Leben jedoch ist immer ein Unterwegssein, das Leben ist auf dem Weg sein; es ruht nicht. Das Leben ist immer ein Unterwegssein auf der Suche nach der richtigen Richtung, ohne Angst vor einer Umkehr, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Das Gefährlichste ist, den Weg mit einem Labyrinth zu verwechseln: mit einem planlosen Umherlaufen im Leben, einem Kreisen um sich selbst, ohne den Weg einzuschlagen, der einen weiterbringt. Bitte seid nicht junge Leute in einem Labyrinth, aus dem man nur schwer wieder herausfindet, sondern seid junge Menschen, die auf dem Weg zu einem Ziel sind. Nicht im Labyrinth, sondern vorwärts schreitend!

Habt keine Angst, euch für Jesus zu entscheiden und für seine Sache, die Sache des Evangeliums, die Sache der Menschheit, der menschlichen Person einzutreten. Denn er wird nie aus dem Boot eures Lebens aussteigen, er wird immer an den Kreuzungen unseres Lebensweges stehen, er wird nie aufhören, uns wiederaufzubauen, auch wenn wir manchmal geneigt sind, uns selbst zu zerstören. Jesus gibt uns reichlich und großzügig Zeit, wo auch Raum für unser Versagen ist, wo niemand auswandern muss, weil dort Platz ist für alle. Viele werden eure Herzen in Beschlag nehmen wollen, die Felder eurer Sehnsüchte mit Unkraut übersäen, aber am Ende, wenn wir unser Leben dem Herrn übereignen, gewinnt immer der gute Weizen. In Eurem Zeugnis, Monika und Jonas, spracht Ihr von der Großmutter und der Mutter … Ich möchte euch sagen – damit schließe ich, keine Sorge! –, ich möchte euch sagen, vergesst nicht die Wurzeln eures Volkes. Denkt über die Vergangenheit nach, sprecht mit den älteren Menschen. Es ist nicht langweilig, mit den Älteren zu sprechen. Geht zu den älteren Menschen und lasst euch etwas von den Wurzeln eures Volkes erzählen, die Freuden, die Leiden, die Werte. Indem ihr so von den Wurzeln schöpft, bringt ihr euer Volk weiter, bringt ihr die Geschichte eures Volkes zu einer größeren Frucht. Liebe junge Freunde, wenn ihr ein großes, freies Volk wollt, nehmt von den Wurzeln das Gedächtnis und führt so das Volk weiter. Vielen Dank!

 



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