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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS  
ZUR ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRS DER RÖMISCHEN ROTA

Clementina-Saal
Donnerstag, 27. Januar 2022

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Exzellenz,
liebe Prälaten-Auditoren!

An jeden von euch richte ich meinen herzlichen Gruß, begonnen beim Dekan, Msgr. Alejandro Arellano Cedillo, dem ich für seine Worte danke. Und ich danke ihm auch für die letzten beiden Dinge, um die er den Papst gebeten hat: Stärkung und Segen. Das gefällt mir. Es ist eine pastorale Bitte. Danke.

Ich begrüße die Beamten, die Anwälte und alle weiteren Mitarbeiter des Apostolischen Gerichtshofes der Römischen Rota. Allen bringe ich meine besten Wünsche zum Ausdruck für das Gerichtsjahr, das wir heute eröffnen.

Der synodale Weg, auf dem wir uns befinden, betrifft auch unsere Begegnung, denn er bezieht auch das Rechtswesen und eure Sendung im Dienst der Familien ein, insbesondere der verletzten Familien, die des Salböls der Barmherzigkeit bedürfen.1 In diesem Jahr, das der Familie als Ausdruck der Freude der Liebe gewidmet ist, haben wir heute Gelegenheit, über die Synodalität in den Ehenichtigkeitsverfahren nachzudenken. Denn die synodale Tätigkeit muss, auch wenn sie nicht verfahrensrechtlicher Natur im engeren Sinne ist, dennoch in Dialog mit dem Rechtswesen gestellt werden. Ziel ist es, die Bedeutung, die die Erfahrung des kirchenrechtlichen Verfahrens für das Leben der Gläubigen, die das Scheitern einer Ehe erlebt haben, und gleichzeitig für die harmonischen Beziehungen innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft hat, allgemeiner zu überdenken. Fragen wir uns also, in welchem Sinne das Rechtswesen einen synodalen Geist braucht.

In erster Linie bedeutet die Synodalität, gemeinsam unterwegs zu sein. Eine verzerrte Sichtweise der Eheprozesse – so als wären sie Ausdruck rein subjektiver Interessen – muss überwunden werden, und es muss wiederentdeckt werden, dass alle Prozessteilnehmer aufgerufen sind, zum selben Ziel beizutragen: die Wahrheit über eine konkrete Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau erglänzen zu lassen und zu der Schluss-folgerung zu gelangen, ob zwischen ihnen eine wahre Ehe besteht oder nicht. Diese Sichtweise des gemeinsamen Unterwegsseins zu einem gemeinsamen Ziel ist nicht neu im kirchlichen Verständnis dieser Prozesse. In diesem Zusammenhang ist die Ansprache an die Römische Rota  berühmt, in der der ehrwürdige Diener Gottes Pius XII. von der »Einheit des Ziels« sprach, »das dem Wirken und der Zusammenarbeit aller, die an der Verhandlung der Eheprozesse an den kirchlichen Gerichtshöfen aller Grade und Arten teilnehmen, besondere Form verleihen und sie beseelen und in derselben Einheit des Wollens und des Handelns vereinen muss«.2  In dieser Hinsicht skizzierte er die Aufgabe eines jeden Prozessteilnehmers bei der Suche nach der Wahrheit, wobei jeder der eigenen Rolle treu bleiben muss. Diese Wahrheit, wenn sie wirklich geliebt wird, wird befreiend.3

Bereits in der vorgerichtlichen Phase, wenn die Gläubigen in Schwierigkeiten sind und seelsorgliche Hilfe suchen, darf das Bemühen, die Wahrheit über die eigene Vereinigung zu erkennen, nicht fehlen. Es ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, zur Heilung der Wunden gelangen zu können. In diesem Rahmen versteht man, wie wichtig das Bemühen um die Förderung der Vergebung und der Versöhnung zwischen den Eheleuten ist, und auch darum, die nichtige Ehe gegebenenfalls gültig zu machen, wenn dies möglich und klug ist. Daher darf auch die Nichtigkeitserklärung nicht so präsentiert werden, als sei sie das einzige Ziel, das angesichts einer Ehekrise zu erlangen ist, oder als stelle sie ein Recht dar, unabhängig von den Tatsachen. Wenn man die mögliche Nichtigkeit in Aussicht stellt, ist es notwendig, die Gläubigen über die Gründe nachdenken zu lassen, die sie dazu bewegen, die Nichtigkeitserklärung des Ehekonsenses zu beantragen, um so die Annahme des endgültigen Urteils zu unterstützen, auch wenn dieses nicht der eigenen Überzeugung entsprechen sollte. Nur auf diese Weise sind die Nichtigkeitsverfahren Ausdruck einer tatsächlichen seelsorglichen Begleitung der Gläubigen in ihren Ehekrisen. Das bedeutet, dem Heiligen Geist Gehör zu schenken, der in der konkreten Geschichte der Menschen spricht. Vor zwei oder drei Jahren haben wir über das Ehekatechumenat gesprochen.

Dasselbe Ziel der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit muss jeden Abschnitt des Rechtsverfahrens kennzeichnen. Es stimmt, dass im Verfahren manchmal eine Dialektik zwischen gegensätzlichen Thesen stattfindet. Das Streitgespräch zwischen den Parteien sollte jedoch immer in aufrichtiger Treue zu dem stattfinden, was einem jeden als wahr erscheint, ohne sich in der eigenen Sichtweise zu verschließen, sondern in Offenheit auch gegenüber dem Beitrag der anderen Prozessteilnehmer. Die Bereitschaft, die eigene subjektive Version der Tatsachen darzulegen, wird fruchtbar im Rahmen einer angemessenen Kommunikation mit den anderen, die auch zur Selbstkritik fähig ist. Daher ist jegliche absichtliche Änderung oder Manipulierung der Tatsachen, die darauf ausgerichtet ist, zu einem pragmatisch erwünschten Ergebnis zu gelangen, nicht statthaft. Hier halte ich inne – ich bitte um Verzeihung –, um auf eine sehr große Gefahr hinzuweisen. Wenn das nicht überwunden wird, können auch die Anwälte schrecklichen Schaden anrichten. Vor einem Monat hat sich ein Bischof beklagt, weil er ein Problem mit einem Priester hatte. Ein schwerwiegendes Problem, kein Eheproblem, sondern ein schwerwiegendes Disziplinarproblem, für das es sich lohnte, vor Gericht zu gehen. Der Richter des nationalen Gerichtshofes – ich spreche nicht von einem bestimmten Land – rief den Bischof an und sagte zu ihm: »Ich habe da etwas bekommen. Ich werde das tun, was Sie mir sagen. Wenn Sie möchten, dass ich ihn verurteile, dann verurteile ich ihn; wenn Sie möchten, dass ich ihn freispreche, dann spreche ich ihn frei.« Das kann passieren! Man kann bis zu diesem Punkt gelangen, wenn es keine Einheit in den Prozessen gibt, auch mit gegensätzlichen Urteilen. Gemeinsam unterwegs sein, weil das Wohl der Kirche, das Wohl der Menschen auf dem Spiel steht! Da wird nichts ausgehandelt. Verzeiht mir, aber diese Anekdote hat mich sehr erleuchtet.

Dieses »gemeinsame Unterwegssein« in der Urteilsfindung gilt für die Parteien und für ihre Verteidiger, für die Zeugen, die einberufen werden, um wahrheitsgemäß auszusagen, für die Experten, die ihr Wissen in den Dienst des Verfahrens stellen müssen, sowie in einzigartiger Weise für die Richter. Denn die Rechtsprechung in der Kirche ist ein Ausdruck der Seelsorge, der Hirteneifer verlangt, um Diener der Heilswahrheit und der Barmherzigkeit zu sein. Dieses »ministerium veritatis « hat besondere Bedeutung bei den Bischöfen, wenn sie persönlich das Urteil sprechen, vor allem in den kürzeren Prozessen und dann, wenn sie ihre Verantwortung gegenüber den eigenen Gerichtshöfen wahrnehmen und auch so ihre väterliche Fürsorge gegenüber den Gläubigen ausüben. Und ich komme auf etwas zurück, das ich vom ersten Augenblick an immer gesagt habe: Der ursprüngliche Richter ist der Bischof. Der Dekan hat bei der Begrüßung zu mir gesagt: »der Papst, universaler Richter aller…« Aber das ist so, weil ich Bischof von Rom bin und Rom den Vorsitz in allen Dingen hat, nicht weil ich einen anderen Titel habe. Danke dafür. Wenn der Papst diese Vollmacht hat, dann darum, weil er Bischof jener Diözese ist, von der der Herr gewollt hat, dass ihr Bischof der Papst sein soll. Der wahre und erste [Richter] ist der Bischof: nicht der Gerichtsvikar, sondern der Bischof.

Die Synodalität in den Prozessen setzt eine beständige Übung des Zuhörens voraus. Auch in diesem Bereich muss man lernen zuzuhören, was nicht einfach nur hören  bedeutet. Das heißt, man muss die Sichtweise und die Beweggründe des anderen verstehen, sich gleichsam in den anderen hineinversetzen. Wie in anderen Bereichen der Seelsorge muss auch im Rechtswesen die Kultur des Zuhörens gefördert werden, als Voraussetzung für die Kultur der Begegnung. Daher sind Standard antworten auf die konkreten Probleme der einzelnen Menschen schädlich. Jeder von ihnen, mit seiner oft von Schmerz gezeichneten Erfahrung, stellt für den kirchlichen Richter das konkrete »existentielle Randgebiet« dar, von dem jede pastorale Rechtstätigkeit ausgehen muss.

Das Verfahren erfordert auch, dass den Argumenten und Beweisen, die von Seiten der Parteien erbracht werden, aufmerksam Gehör geschenkt wird. Von besonderer Bedeutung ist die Voruntersuchung, die auf die Feststellung der Tatsachen ausgerichtet ist. Sie verlangt von dem, der sie leitet, die Fähigkeit, die rechte Professionalität mit Nähe und Zuhören zu verbinden. Und braucht das Zeit? Ja, es braucht Zeit. Braucht es Geduld? Ja, es braucht Geduld. Braucht es pastorale Väterlichkeit? Ja, es braucht pastorale Väterlichkeit. Die Richter müssen Zuhörer schlechthin sein – in allen Dingen, die im Verfahren zum Vorschein gekommen sind, für und gegen die Nichtigkeitserklärung. Sie sind kraft einer Gerechtigkeitspflicht dazu angehalten, beseelt und gestützt von der Hirtenliebe, weil »die Barmherzigkeit die Fülle der Gerechtigkeit und die leuchtendste Bekundung der Wahrheit Gottes ist« (Apostolisches Schreiben Amoris laetitia, 311). Außerdem gibt es in der Regel ein Richterkollegium: Jeder Richter muss sich öffnen für die Argumente, die von den anderen Mitgliedern vorgebracht werden, um zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen. In diesem Sinne darf bei eurer Tätigkeit als Gerichtspersonen nie das Hirtenherz, der Geist der Nächstenliebe und des Verständnisses gegenüber den Menschen fehlen, die unter dem Scheitern ihres Ehelebens leiden. Um einen solchen Stil zu erwerben, muss die Sackgasse des Legalismus – der eine Art von Rechtspelagianismus ist; er ist nicht katholisch, der Legalismus ist nicht katholisch –, also eine selbstbezogene Rechtsauffassung, vermieden werden. Gesetz und Urteil stehen immer im Dienst der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Tugend der Liebe, die dem Evangelium entspringt.

Ein weiterer Aspekt der Synodalität der Verfahren ist die Entscheidungsfindung. Denn die Synode besteht nicht nur darin, nach Meinungen zu fragen. Sie ist keine Befragung, in der das, was jeder einzelne sagt, denselben Wert hat. Nein. Was gesagt wird, fließt in die Entscheidungsfindung ein. Es bedarf der Fähigkeit, eine Entscheidung zu finden. Und die Entscheidungsfindung ist nicht einfach. Es handelt sich um eine Entscheidungsfindung, die auf dem gemeinsamen Unterwegssein und auf dem Zuhören gründet und die es gestattet, die konkrete Ehesituation im Licht des Wortes Gottes und des Lehramts der Kirche zu verstehen. Die Entscheidung der Richter erscheint so als ein Hinabsteigen in die Wirklichkeit eines Lebensereignisses, um in ihm das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein jenes unwiderruflichen Ereignisses zu entdecken, das der gültige Konsens darstellt, auf dem die Ehe gründet. Nur so kann man die Gesetze bezüglich der einzelnen Formen der Ehenichtigkeit als Ausdrücke der Lehre und der Disziplin der Kirche im Hinblick auf die Ehe fruchtbar anwenden. Hier ist die Rechtsklugheit am Werk, in ihrem klassischen Sinn der »recta ratio agibilium «, also die Tugend, die mit Vernunft urteilt, das heißt mit Aufrichtigkeit im praktischen Bereich. Kehren wir zurück zu jenem Beispiel: »Was wollen Sie? Soll ich ihn verurteilen oder freisprechen?«

Das Ergebnis dieses Weges ist das Urteil, Frucht einer aufmerksamen Entscheidungsfindung, die zu einem maßgeblichen Wort der Wahrheit über das persönliche Leben führt und daher die Wege deutlich macht, die sich von dort aus öffnen können. Das Urteil muss daher für die betreffenden Personen verständlich sein: Nur so wird es zu einem Augenblick von besonderer Bedeutung auf ihrem menschlichen und christlichen Weg werden.

Liebe Prälaten-Auditoren, aus diesen Überlegungen, die ich eurer Aufmerksamkeit unterbreiten wollte, geht hervor, dass die Dimension der Synodalität es gestattet, die wesentlichen Eigenschaften des Verfahrens hervorzuheben. Ich ermutige euch daher, mit erneuerter Treue und Beflissenheit euer kirchliches Amt im Dienst der Gerechtigkeit, das untrennbar ist von der Wahrheit und letztendlich von der »salus animarum «, weiter auszuüben. Eine Arbeit, die das barmherzige Antlitz der Kirche zum Ausdruck bringt: ein mütterliches Antlitz, das sich über jeden Gläubigen herabbeugt, um ihm zu helfen, zur Wahrheit seiner selbst zu gelangen, indem es ihn aufrichtet aus den Niederlagen und den Mühen und ihn einlädt, die Schönheit des Evangeliums in ganzer Fülle zu leben. Ich bringe einem jeden erneut meine Anerkennung und meine Dankbarkeit zum Ausdruck. Ich bitte den Heiligen Geist, eure Tätigkeit stets zu begleiten, und ich segne euch von Herzen. Und vergesst nicht zu beten. Das Gebet möge euch stets begleiten. »Ich bin viel beschäftigt, ich habe viel zu tun…« Das Erste, was du tun musst, ist beten. Darum beten, dass der Herr dir nahe sei. Und auch, um das Herz des Herrn kennenzulernen: Wir lernen es im Gebet kennen. Und die Richter mögen und müssen zwei- oder dreimal so viel beten. Bitte vergesst nicht, auch für mich zu beten, das ist klar. Danke.

Fußnoten

1  Vgl. Bulle Misericordiae Vultus, 5: AAS  107 [2015], 402.

2 Ansprache an die Römische Rota, 2. Oktober 1944: AAS  36 [1944], 281.

3  Vgl. Joh  8,32.



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