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  BOTSCHAFT
SEINER HEILIGKEIT
PAPST JOHANNES PAUL II.
ZUR FEIER DES
WELTFRIEDENSTAGES

1. JANUAR 2003

 

PACEM IN TERRIS:
EINE BLEIBENDE AUFGABE

 

1. Fast vierzig Jahre sind seit dem 11. April 1963 vergangen, an dem Papst Johannes XXIII. die historische Enzyklika  »Pacem in terris«  veröffentlichte. Es war dies der Gründonnerstag. Mein verehrter Vorgänger, der nur zwei Monate später starb und sich in der Enzyklika »an alle Menschen guten Willens« wandte, faßte seine Friedensbotschaft an die Welt im ersten Satz zusammen: »Der Friede auf Erden, nach dem alle Menschen zu jeder Zeit sehnlichst verlangten, kann nur dann begründet und gesichert werden, wenn die von Gott festgesetzte Ordnung gewissenhaft beobachtet wird« (Pacem in terris, Einleitung: AAS, 55 [1963], 257).

Zu einer zerspaltenen Welt vom Frieden sprechen

2. Die Welt, an die sich Johannes XXIII. wandte, befand sich tatsächlich in einem Zustand tiefgreifender Unordnung. Das zwanzigste Jahrhundert hatte mit einer großen Fortschrittserwartung begonnen. Statt dessen hatte die Menschheit in sechzig Jahren Geschichte den Ausbruch zweier Weltkriege, die Errichtung grausamer totalitärer Systeme, die Häufung immenser menschlicher Leiden und die Entfesselung der größten Kirchenverfolgung, welche die Geschichte je erlebt hat, verzeichnen müssen.

Nur zwei Jahre vor Pacem in terris wurde 1961 die Berliner Mauer errichtet, um nicht nur die beiden Teile jener Stadt voneinander zu trennen und gegeneinander in Stellung zu bringen, sondern auch zwei Modelle des Verstehens und des Aufbaus der irdischen Gesellschaft. Auf beiden Seiten der Mauer nahm das Leben unter dem Einfluß oft gegensätzlicher Regeln und in einem zunehmend von Verdacht und Mißtrauen durchsetzten Klima unterschiedliche Gestalt an. Sowohl als Weltanschauung wie auch als konkreter Lebensentwurf verlief jene Mauer quer durch die ganze Menschheit und drang in das Herz und den Verstand der Menschen ein, wo sie Trennungen erzeugte, die, so schien es, für immer bestehen bleiben sollten.

Zudem befand sich sechs Monate vor der Veröffentlichung der Enzyklika, als in Rom wenige Tage zuvor das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet worden war, die Welt wegen der durch die auf Kuba stationierten Raketen verursachten Krise am Rande eines Atomkrieges. Der Weg zu einer Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und der Freiheit schien blockiert. Viele glaubten, die Menschheit wäre dazu verdammt, noch lange Zeit in dieser gefährlichen Situation des »Kalten Krieges« zu leben und ständig dem Alptraum ausgesetzt zu sein, daß ein Angriff oder ein Zwischenfall von einem Tag auf den anderen den schlimmsten Krieg der ganzen Menschheitsgeschichte auslösen könnten. Der Einsatz der Atomwaffen hätte ihn in der Tat zu einem Konflikt gemacht, der die Zukunft der Menschheit gefährdet hätte.

Die vier Säulen des Friedens

3. Papst Johannes XXIII. teilte nicht die Meinung derjenigen, die den Frieden in den Bereich des Unmöglichen rückten. Mit der Enzyklika bewirkte er, daß dieser fundamentale Wert - mit seiner ganzen anspruchsvollen Wahrheit - an beide Seiten der Mauer und aller Mauern zu pochen begann. Zu allen sprach die Enzyklika von der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie. Sie entzündete in allen ein Licht sehnsüchtigen Verlangens, auf daß Menschen eines jeden Erdteils in Sicherheit, Gerechtigkeit und mit der Hoffnung auf Zukunft leben.

Erleuchteten Geistes wie er war, erkannte Johannes XXIII. die entscheidenden Voraussetzungen für den Frieden in vier klaren Erfordernissen des menschlichen Geistes: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit (vgl. ibid., 265-266). Die Wahrheit - sagte er - wird die Grundlage des Friedens sein, wenn jeder einzelne außer seinen Rechten auch seine Pflichten gegenüber den anderen ehrlich anerkennt. Die Gerechtigkeit wird den Frieden aufbauen, wenn jeder die Rechte der anderen konkret respektiert und sich bemüht, seine Pflichten gegenüber den anderen voll zu erfüllen. Die Liebe wird der Sauerteig des Friedens sein, wenn die Menschen die Nöte und Bedürfnisse der anderen als ihre eigenen empfinden und ihren Besitz, angefangen bei den geistigen Werten, mit den anderen teilen. Die Freiheit schließlich wird den Frieden nähren und Früchte tragen lassen, wenn die einzelnen bei der Wahl der Mittel zu seiner Erreichung der Vernunft folgen und mutig die Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen.

Den Blick der Augen des Glaubens und der Vernunft auf die Gegenwart und in die Zukunft gerichtet, erkannte und deutete der selige Johannes XXIII. die tiefgreifenden Anregungen, die bereits in der Geschichte am Werk waren. Er wußte, daß die Dinge nicht immer so sind, wie sie oberflächlich betrachtet erscheinen. Trotz der Kriege und Kriegsdrohungen war in der Menschheitsgeschichte etwas anderes am Werk, etwas, das der Papst als den verheißungsvollen Anfang einer geistlichen Revolution erfaßte.

Ein neues Bewußtsein von der Würde des Menschen und seiner unveräußerlichen Rechte

4. Die Menschheit, so schrieb er, habe auf ihrem Weg einen neuen Abschnitt eingeschlagen (vgl. ibid., 267- 269). Das Ende des Kolonialismus, die Entstehung neuer unabhängiger Staaten, der bessere Schutz der Arbeitnehmerrechte, die neue und willkommene Präsenz der Frauen im öffentlichen Leben erschienen ihm gleichfalls als Zeichen einer Menschheit, die dabei war, in eine neue Phase ihrer Geschichte einzutreten, eine Phase, die gekennzeichnet war von der »Überzeugung, daß alle Menschen in der Würde ihrer Natur unter sich gleich sind«  (ibid., 268). Diese Würde wurde gewiß in vielen Teilen der Welt noch immer mit Füßen getreten. Das wußte der Papst nur zu gut. Er war jedoch davon überzeugt, daß die Welt trotz der in gewisser Hinsicht dramatischen Lage sich bestimmter geistiger Werte immer bewußter werde und immer mehr Offenheit zeige für den inhaltlichen Reichtum jener »Säulen des Friedens« , nämlich der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit (vgl. ibid., 268-269). Durch die Bemühungen, diese Werte in das gesellschaftliche Leben sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene einzubringen, würden sich Männer und Frauen immer mehr der Bedeutung ihrer Beziehung zu Gott, der Quelle alles Guten, bewußt werden, dem festen Fundament und dem höchsten Maßstab ihres Lebens sowohl als Einzelpersonen wie auch als soziale Wesen (vgl. ibid.). Diese geschärfte geistige Sensibilität würde - davon war der Papst überzeugt - auch tiefgreifende Folgen für das öffentliche und politische Leben haben.

Angesichts des wachsenden Bewußtseins der Menschenrechte, das sich auf nationaler wie internationaler Ebene abzeichnete, hatte Johannes XXIII. eine Intuition für die dem Phänomen innewohnende Kraft und dessen außerordentliche Macht, die Geschichte zu verändern. Das, was sich wenige Jahre später vor allem in Mittel- und Osteuropa zutrug, war die einzigartige Bestätigung dafür. Der Weg zum Frieden, so lehrte der Papst in der Enzyklika, mußte über die Verteidigung und Förderung der menschlichen Grundrechte führen. Denn diese Rechte genießt jeder Mensch, und zwar nicht als eine von einer bestimmten Gesellschaftsklasse oder vom Staaat gewährte Gunst, sondern als ein Vorrecht, das ihm als Person zusteht: »Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein soll, muß das Prinzip zugrunde liegen, daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen, Rechte und Pflichten, die daher allgemein gültig, unverletzlich und unveräußerlich sind« (ibid., 259).

Es handelte sich dabei nicht einfach um abstrakte Ideen. Es waren Ideen mit umfassenden praktischen Konsequenzen, wie dies die Geschichte sehr bald beweisen sollte. Aufgrund der Überzeugung, daß jedes menschliche Wesen in der Würde gleich ist und infolgedessen die Gesellschaft ihre Strukturen dieser Voraussetzung anpassen muß, entstanden sehr bald die Menschenrechtsbewegungen, die einer der großen Triebkräfte der Geschichte unserer Zeit konkreten politischen Ausdruck verliehen haben. Die Förderung der Freiheit wurde als ein unentbehrliches Element im Einsatz für den Frieden erkannt. Diese Bewegungen, die praktisch überall auf der Welt entstanden, trugen zum Sturz diktatorischer Regierungsformen bei und drängten darauf, sie durch andere, demokratischere Formen unter Beteiligung des Volkes zu ersetzen. Sie bewiesen in der Praxis, daß Friede und Fortschritt nur durch die Einhaltung des allgemeinen, ins Herz des Menschen eingeschriebenen Sittengesetzes erreicht werden können (vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, 5. Oktober 1995, Nr. 3).

Das universale Gemeinwohl

5. Noch in einem anderen Punkt erwies sich die Lehre von Pacem in terris als prophetisch, da sie der nächsten Phase der weltpolitischen Entwicklungen zuvorkam. Angesichts einer Welt, die immer mehr interdependent und globaler wurde, empfahl Papst Johannes XXIII., den Begriff des Gemeinwohls auf einen weltweiten Horizont hin neu zu formulieren. Um korrekt zu sein, sollte von nun an auf den Begriff des »universalen Gemeinwohls« Bezug genommen werden (vgl. Pacem in terris, IV: l.c., 292). Eine der Folgen dieser Entwicklung war die offensichtliche Forderung nach einer öffentlichen Gewalt auf internationaler Ebene, die tatsächlich über die Fähigkeit verfügen würde, ein solches universales Gemeinwohl zu fördern. Diese Autorität, fügte der Papst sogleich hinzu, dürfte nicht durch Zwang, sondern nur durch einen Konsens unter den Nationen errichtet werden. Es sollte sich dabei um ein Organ handeln, das »die Anerkennung, die Achtung, den Schutz und die Förderung der Rechte der Person zum Hauptziel hat« (ibid., 294).

Daher überrascht es nicht, daß Johannes XXIII. mit großer Hoffnung auf die am 26. Juni 1945 gegründete Organisation der Vereinten Nationen blickte. Er sah in ihr ein glaubwürdiges Werkzeug zur Erhaltung und Festigung des Friedens in der Welt. Gerade deshalb brachte er seine besondere Wertschätzung für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948 zum Ausdruck, die er als »einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur rechtlichen und politischen Ordnung der Weltgemeinschaft« ansah (ibid., 295). Denn in dieser Deklaration wurden die moralischen Grundlagen gelegt, auf die sich der Aufbau einer Weltgemeinschaft stützen können sollte, die von Ordnung statt von Unordnung, vom Dialog statt von Gewalt gekennzeichnet ist. In dieser Perspektive machte der Papst begreiflich, daß der Schutz der Menschenrechte seitens der Vereinten Nationen die unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung der Handlungsfähigkeit der Organisation selbst war, die internationale Sicherheit zu fördern und zu verteidigen.

Nicht nur hat sich die vorausschauende Vision von Papst Johannes XXIII., das heißt die Aussicht auf eine völkerrechtlich verankerte öffentliche Autorität im Dienste der Menschenrechte, der Freiheit und des Friedens, noch nicht zur Gänze verwirklicht. Man muß leider auch ein häufiges Zögern der internationalen Gemeinschaft bei der Pflicht, die Menschenrechte zu achten und umzusetzen, feststellen. Diese Verpflichtung betrifft alle Grundrechte und duldet keine willkürlichen Auswahlentscheidungen, die Formen der Diskriminierung und Ungerechtigkeit mit sich bringen würden. Zugleich sind wir Zeugen davon, daß sich eine besorgniserregende Schere zwischen einer Reihe neuer »Rechte« , die in den hochtechnisierten Gesellschaften gefördert werden, und den elementaren Menschenrechten auftut, denen vor allem in unterentwickelten Gebieten immer noch nicht voll Genüge geleistet wird. Ich denke beispielsweise an das Recht auf Nahrung, auf Trinkwasser, auf Unterkunft, auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Der Friede verlangt, daß dieser Abstand Schritt für Schritt abgebaut und schließlich überwunden wird.

Hierzu ist noch eine Anmerkung von Nöten: Die internationale Gemeinschaft, die seit 1948 eine Charta der Rechte der menschlichen Person besitzt, hat es meist versäumt, in angemessener Weise auf den sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu bestehen. Tatsächlich ist es die Pflicht, die jenen Bereich absteckt, auf den sich die Rechte beschränken müssen, um nicht der Willkür Vorschub zu leisten. Ein stärkeres Bewußtsein der allgemeinen menschlichen Pflichten wäre für die Sache des Friedens von großem Nutzen, weil es ihr die moralische Grundlage für die gemeinsam vertretene Anerkennung einer Ordnung der Dinge liefern würde, die nicht vom Willen eines Einzelnen oder einer Gruppe abhängt.

Eine neue sittliche Ordnung mit internationaler Geltung

6. Dennoch trifft es zu, daß es in den vergangenen vierzig Jahren trotz der vielen Schwierigkeiten und Säumnisse einen beachtlichen Fortschritt in Richtung auf die Verwirklichung der edlen Vision Papst Johannes' XXIII. gegeben hat. Die Tatsache, daß die Staaten in fast allen Teilen der Welt sich dazu verpflichtet fühlen, der Idee der Menschenrechte Beachtung zu schenken, zeigt, wie mächtig die Mittel der moralischen Überzeugung und der geistigen Integrität sind. Das waren die Kräfte, welche sich in der Mobilisierung der Gewissen als entscheidend erwiesen haben, die am Beginn der gewaltlosen Revolution von 1989 stand, dem Ereignis, das den Zusammenbruch des europäischen Kommunismus besiegelte. Obschon Verzerrungen des Freiheitsbegriffes - Freiheit verstanden als Erlaubnis - nach wie vor die demokratische Ordnung und die freien Gesellschaften bedrohen, ist es sicher von Bedeutung, daß in den vierzig Jahren seit der Veröffentlichung von Pacem in terris viele Völker der Erde größere Freiheit erlangt haben, daß sich Strukturen des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen den Nationen gefestigt haben und daß die drohende Gefahr eines weltweiten Atomkrieges, die sich zur Zeit Papst Johannes' XXIII. auf drastische Weise abgezeichnet hatte, wirksam eingedämmt worden ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich mit demütiger Beharrlichkeit feststellen, daß die jahrhundertealte Lehre der Kirche über den Frieden, welcher nach der Definition des hl. Augustinus (De civitate Dei, 19, 13) als  »tranquillitas ordinis« - »die Ruhe der Ordnung« - verstanden wird, sich auch im Lichte der in der Enzyklika Pacem in terris enthaltenen Vertiefungen als besonders bedeutungsvoll für die heutige Welt erwiesen hat, und zwar sowohl für die Staatsoberhäupter wie auch für die einfachen Bürger. Daß in der Situation der heutigen Welt eine große Unordnung herrscht, ist eine Feststellung, die leicht von allen geteilt wird. Es stellt sich daher die folgende Frage: Welche Art von Ordnung kann diese Unordnung ersetzen, um den Männern und Frauen die Möglichkeit eines Lebens in Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit zu geben? Weil die Welt, wenn auch in ihrer Unordnung, dennoch in verschiedenen Bereichen (wirtschaftlich, kulturell und sogar politisch) damit beschäftigt ist, sich zu »organisieren«, erhebt sich eine weitere, ebenso dringliche Frage: Welchen Prinzipien folgt die Entwicklung dieser neuen Formen einer Weltordnung?

Diese weitreichenden Fragekreise zeigen, daß das Problem der Ordnung in den weltweiten Angelegenheiten, das sodann das Problem des Friedens in richtig verstandener Weise ist, nicht von Fragestellungen absehen kann, die an die Moralprinzipien gebunden sind. Mit anderen Worten, auch aus diesem Blickwinkel ergibt sich das Gewißheit, daß die Friedensproblematik nicht von der Frage der Würde und der Rechte des Menschen abgetrennt werden kann. Genau dies ist eine der immerwährenden Wahrheiten, welche Pacem in terris lehrt. Wir werden gut daran tun, am vierzigsten Jahrestag der Enzyklika daran zu erinnern und darüber nachzudenken.

Ist dies etwa nicht der Zeitpunkt, zu dem alle am Aufbau einer neuen Organisationsstruktur der gesamten Menschheitsfamilie mitarbeiten müssen, um Frieden und Eintracht unter den Völkern sicherzustellen und gemeinsam ihren ganzheitlichen Fortschritt zu fördern? Dabei ist es wichtig, Mißverständnisse zu vermeiden: Es soll hier nicht auf die Schaffung eines globalen Superstaates angespielt werden. Man will vielmehr die Dringlichkeit unterstreichen, die bereits in Gang befindlichen Prozesse zu beschleunigen. Dabei soll auf die beinah universale Frage nach demokratischen Formen der Ausübung politischer Autorität sowohl auf nationalem wie internationalem Niveau ebenso geantwortet werden, wie auf die Forderung nach Transparenz und Glaubwürdigkeit auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens. Im Vertrauen auf das im Herzen eines jeden Menschen vorhandene Gute wollte sich Papst Johannes XXIII. dieses zunutze machen und rief die ganze Welt zu einer edleren Vision des öffentlichen Lebens und der Ausübung der öffentlichen Autorität auf. Mit Kühnheit drängte er die Welt dazu, sich in eine Lage jenseits ihres derzeitigen Zustandes der Unordnung zu versetzen und sich neue Formen einer völkerrechtlichen Ordnung auszudenken, die der menschlichen Würde gerecht würden.

Das Band zwischen Friede und Wahrheit

7. Johannes XXIII. wollte die Vorstellung derjenigen zurückweisen, die in der Politik ein von der Moral losgelöstes Feld sehen, das allein vom Kriterium des Eigennutzes abhängt. Mittels der Enzyklika Pacem in terris entwarf der Papst ein wahrheitsgemäßeres Bild der menschlichen Wirklichkeit und zeigte den Weg zu einer besseren Zukunft für alle auf. Gerade weil die Menschen mit der Fähigkeit geschaffen worden sind, sittliche Entscheidungen zu treffen, liegt keine menschliche Tätigkeit außerhalb der Sphäre der sittlichen Werte. Die Politik ist eine Tätigkeit des Menschen; daher unterliegt auch die Politik dem moralischen Urteil. Das gilt auch für die Weltpolitik. Der Papst schrieb: »Das gleiche Naturgesetz, das die Lebensbeziehungen unter den einzelnen Bürgern regelt, soll auch die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Staaten bestimmen« (Pacem in terris, III: l.c., 279). Alle, die meinen, das öffentliche Leben der Weltgemeinschaft entfalte sich gewissermaßen außerhalb des Rahmens der sittlichen Beurteilung, brauchen nur an die Auswirkung der Menschenrechtsbewegungen auf die nationale und internationale Politik des vor kurzem zu Ende gegangenen zwanzigsten Jahrhunderts zu denken. Diese Entwicklungen, denen die Lehre der Enzyklika zuvorgekommen war, widerlegen mit Entschiedenheit die Forderung, daß die Weltpolitik in einer Art »Freizone« angesiedelt sei, in der das Sittengesetz keinerlei Macht hätte.

Vielleicht gibt es keinen anderen Ort, an dem man die Notwendigkeit eines korrekten Umgangs mit der politischen Macht mit gleicher Klarheit zu erfassen vermag, wie in der dramatischen Lage im Nahen Osten und im Heiligen Land. Tag um Tag und Jahr um Jahr hat der Kumulierungseffekt einer verschärften gegenseitigen Ablehnung und einer schier endlosen Kette von Gewalttaten und Racheakten bislang jeden Versuch vereitelt, einen ernsthaften Dialog über die tatsächlich anstehenden Probleme in Gang zu bringen. Der prekäre Charakter der Lage wird infolge des zwischen den Mitgliedern der Völkergemeinschaft bestehenden Interessenkonflikts noch dramatischer. Solange die Inhaber verantwortlicher Positionen nicht dazu bereit sind, ihren Umgang mit der Macht beherzt in Frage zu stellen und sich um das Wohl ihrer Völker zu kümmern, wird man sich nur schwer vorstellen können, wie ein Fortschritt in Richtung Frieden tatsächlich möglich sein könnte. Jeden Tag erschüttert das Heilige Land ein Bruderkampf, der die Kräfte, die an der unmittelbaren Zukunft des Nahen Ostens arbeiten, gegeneinander in Stellung bringt. Der Bruderkrieg hebt den dringenden Bedarf an Männern und Frauen hervor, die von der Notwendigkeit einer auf die Achtung der Würde und der Rechte der Person gegründeten Politik überzeugt sind. Eine solche Politik ist für alle unvergleichlich vorteilhafter als die Fortsetzung der andauernden Konfliktsituation. Von dieser Wahrheit muß ausgegangen werden. Sie ist immer befreiender als jede Form von Propaganda, besonders wenn solche Propaganda dazu dienen sollte, uneingestehbare Intentionen zu verhehlen.

Die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden

8. Zwischen dem Einsatz für den Frieden und der Achtung vor der Wahrheit besteht eine untrennbare Verbindung. Ehrlichkeit bei der Erteilung von Auskünften, Gerechtigkeit in der Rechtsprechung, Transparenz der demokratischen Vorgänge geben den Bürgern jenes Gefühl von Sicherheit, jene Bereitschaft, Streitfälle mit friedlichen Mitteln beizulegen, und jenen Willen zu einem fairen und konstruktiven Einvernehmen, welche die wirklichen Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden bilden. Die Politikertreffen auf nationaler und internationaler Ebene dienen dem Anliegen des Friedens nur dann, wenn die gemeinsame Übernahme der Verpflichtungen danach von jeder Seite respektiert wird. Andernfalls drohen diese Begegnungen irrelevant und nutzlos zu werden. Als Folge davon sind die Menschen versucht, immer weniger an die Nützlichkeit des Dialogs zu glauben und statt dessen auf Gewaltanwendung als Weg zur Lösung von Kontroversen zu bauen. Die negativen Auswirkungen, die übernommene und dann nicht eingehaltene Verpflichtungen auf den Friedensprozeß haben, müssen die Staats- und Regierungschefs dazu bringen, einen jeden ihrer Beschlüsse mit größtem Verantwortungsbewußtsein abzuwägen.

Pacta sunt servanda lautet ein antikes Sprichwort. Wenn alle übernommenen Verpflichtungen eingehalten werden müssen, ist mit besonderer Sorge auf die Erfüllung der gegenüber den Armen übernommenen Verpflichtungen Wert zu legen. Denn ihnen gegenüber wäre die unterlassene Erfüllung von Versprechungen, die von ihnen als lebenswichtig empfunden werden, besonders frustrierend. So gesehen stellt die unterlassene Erfüllung der Verpflichtungen zugunsten der Entwicklungsländer ein ernstes moralisches Problem dar und rückt die Ungerechtigkeit der in der Welt bestehenden Ungleichheiten noch stärker ins Licht. Die von der Armut verursachten Leiden erfahren durch den Vertrauensverlust eine dramatische Steigerung. In letzter Konsequenz geht jegliche Hoffnung verloren. Bestehendes Vertrauen ist in den internationalen Beziehungen ein soziales Kapital von fundamentalem Wert.

Eine Kultur des Friedens

9. Bei einer gründlicheren Betrachtung der Dinge ist zu erkennen, daß der Friede weniger eine Frage der Strukturen, als vielmehr der Personen ist. Friedensstrukturen und Friedensprozesse - rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Charakters - sind sicher notwendig und glücklicherweise oft gegeben. Sie sind jedoch nur die Frucht der Weisheit und Erfahrung, die sich im Laufe der Geschichte mittels unzähliger Friedensgesten angesammelt hat, gesetzt von Männern und Frauen, die zu hoffen vermochten, ohne sich der Entmutigung zu überlassen. Friedensgesten erwachsen aus dem Leben von Menschen, die eine dauerhafte Haltung des Friedens in ihrem Herzen hegen. Sie sind das Werk des Verstandes und des Herzens der »Friedensstifter« (Mt 5, 9). Friedensgesten sind möglich, wenn die Menschen die Gemeinschaftsdimension des Lebens voll zu schätzen wissen, so daß sie die Bedeutung und die Folgen begreifen, die bestimmte Ereignisse auf ihre Gemeinschaft und auf die Welt insgesamt haben. Friedensgesten erzeugen eine Tradition und eine Kultur des Friedens.

Die Religion besitzt eine lebenswichtige Rolle beim Anregen von Friedensgesten und bei der Festschreibung von Voraussetzungen für den Frieden. Diese Rolle kann sie um so wirksamer wahrnehmen, je entschlossener sie sich auf das konzentriert, was ihr eigen ist: die Öffnung für Gott, die Lehre von einer universalen Brüderlichkeit und die Förderung einer Kultur der Solidarität. Der »Gebetstag für den Frieden« , den ich am 24. Januar 2002 in Assisi unter Einbeziehung der Vertreter zahlreicher Religionen abgehalten habe, hatte genau diesen Zweck. Er wollte den Wunsch zum Ausdruck bringen, durch die Verbreitung einer Spiritualität und Kultur des Friedens zum Frieden zu erziehen.

Das Erbe von »Pacem in terris« 

10. Der selige Johannes XXIII. war jemand, der keine Angst vor der Zukunft hatte. In dieser optimistischen Einstellung half ihm jenes überzeugte Vertrauen auf Gott und in den Menschen, das er aus dem Klima tiefer Gläubigkeit schöpfte, in dem er aufgewachsen war. Gestärkt durch diese Hingabe an die Vorsehung - und das sogar im Kontext eines offensichtlichen Dauerkonfliktes -, zögerte er nicht, den politischen Führern seiner Zeit eine neue Weltsicht vorzustellen. Das ist das Erbe, das er uns hinterlassen hat. Wenn wir an diesem Weltfriedenstag 2003 auf ihn blicken, sind wir eingeladen, uns für die gleichen Haltungen einzusetzen, die er vertreten hat: Vertrauen auf den barmherzigen und mitleidsvollen Gott, der uns zur Brüderlichkeit ruft; Vertrauen in die Männer und Frauen unserer Zeit und jeder anderen Zeit, wegen des Bildes Gottes, das in gleicher Weise in die Seelen aller eingeprägt ist. Ausgehend von diesen Haltungen darf man darauf hoffen, eine Welt des Friedens auf Erden aufzubauen.

Am Beginn eines neuen Jahres in der Geschichte der Menschheit steigt spontan aus meinem tiefsten Herzen dieser Wunsch empor: Möge in den Herzen aller die Begeisterung einer erneuerten Zustimmung zu dem edlen Auftrag erweckt werden können, den die Enzyklika Pacem in terris vor vierzig Jahren allen Männern und Frauen guten Willens anbot. Diese von der Enzyklika als »immens« bezeichnete Aufgabe sollte darin bestehen, »unter dem Leitstern der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit im menschlichen Zusammenleben neue Wege der gegenseitigen Beziehungen zu finden«. Der Papst präzisierte dann, um welche Beziehungen es ihm ging: »Beziehungen der Einzelnen untereinander; zwischen den Einzelnen und ihren Staaten; der Staaten untereinander; Beziehungen der Einzelnen, der Familien, der intermediären Körperschaften, der Staaten auf der einen Seite zur Gemeinschaft aller Menschen auf der anderen«. Und er betonte abschließend, daß das Bemühen, »den wahren Frieden nach der von Gott gesetzten Ordnung zu verwirklichen, eine außerordentlich bedeutsame Aufgabe« darstelle (Pacem in terris, V: l.c., 301-302).

Der vierzigste Jahrestag der Veröffentlichung von Pacem in terris ist eine höchst willkommene Gelegenheit, um die prophetische Lehraussage Papst Johannes' XXIII. neu zu beherzigen. Die kirchlichen Gemeinschaften werden darüber nachdenken, wie sie dieses Jubiläum während des Jahres auf geeignete Weise feiern können: mit Initiativen, die durchaus ökumenischen und interreligiösen Charakter haben können, indem sie sich allen öffnen, die sich zutiefst danach sehnen, »die Schranken zu zerbrechen, die die einen von den anderen trennen, die Bande gegenseitiger Liebe zu festigen, einander besser zu verstehen und schließlich allen zu verzeihen, die ihnen Unrecht getan haben« (ibid., 304).

Diese Wünsche begleite ich mit meinem Gebet an Gott den Allmächtigen, die Quelle all dessen, was uns zum Guten gereicht. Er, der uns aus dem Zustand der Unterdrückung und der Konflikte zur Freiheit und zur Mitarbeit für das Wohl aller beruft, helfe den Menschen in jedem Winkel der Erde, eine Welt des Friedens aufzubauen, die immer fester auf die vier Säulen gegründet ist, auf die der selige Johannes XXIII. in seiner historischen Enzyklika alle hingewiesen hat: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit.

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2002, Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria.

JOHANNES PAUL II.



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