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JUBILÄUMSPILGERREISE
VON PAPST JOHANNES PAUL II.
 INS HEILIGE LAND (20.-26. MÄRZ 2000)

INTERRELIGIÖSE BEGEGNUNG IN JERUSALEM

ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.

Donnerstag, 23. März 2000

 

 

Sehr geehrte Vertreter der jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubensgemeinschaften!

1. In diesem Jahr der 2000. Jahrfeier der Geburt Jesu Christi freue ich mich sehr, daß sich mein lang gehegter Wunsch erfüllt hat und ich eine Reise durch die Geographie der Heilsgeschichte unternehmen kann. Tief ergriffen folge ich den Spuren der zahllosen Pilger, die vor mir an den Heiligen Stätten, die mit dem Wirken Gottes verbunden sind, gebetet haben. Ich bin mir dessen bewußt, daß dieses Land Juden, Christen und Muslimen heilig ist, und deshalb wäre mein Besuch ohne dieses Treffen mit Ihnen, verehrte Führer der Religionsgemeinschaften, unvollständig gewesen. Ich danke Ihnen für die Unterstützung, die die Hoffnung und Überzeugung so vieler Menschen, wirklich in ein neues Zeitalter des interreligiösen Dialogs einzutreten, durch Ihre Anwesenheit hier heute abend erfahren. Wir sind uns darüber klar, daß engere Beziehungen zwischen allen Gläubigen eine notwendige und dringende Voraussetzung zur Sicherung einer gerechteren und friedlicheren Welt sind.

Wie der Name schon andeutet, ist Jerusalem für uns alle die »Stadt des Friedens«. Vielleicht vermittelt keine andere Stätte der Welt diesen Sinn von Transzendenz und der göttlichen Auserwählung, die wir in den Steinen und Monumenten dieser Stadt erkennen, sowie im Zeugnis der drei Religionen, die innerhalb ihrer Mauern Seite an Seite leben. Nicht alles war oder ist in diesem Miteinander leicht. In unserer jeweiligen religiösen Tradition müssen wir aber die Weisheit und höhere Motivation finden, die den Erfolg von gegenseitigem Verständnis und freundschaftlicher Achtung gewährleisten.

2. Wir sind uns alle einig, daß sich die Religion wirklich auf Gott ausrichten muß und daß unsere erste religiöse Pflicht Anbetung, Lob und Danksagung ist. Die Eröffnungssure des Korans macht dies deutlich: »Gepriesen sei Gott, der Herr der Welten!« (1,1). In den inspirierten Gesängen der Bibel hören wir diesen universalen Aufruf: »Alles, was atmet, lobe den Herrn! Halleluja!« (Ps 150,6). Und im Evangelium lesen wir, daß bei der Geburt Jesu die Engel sangen: »Verherrlicht ist Gott in der Höhe« (Lk 2,14). In unserer Zeit, wo viele versucht sind, ihre Angelegenheiten ohne jeden Bezug zu Gott zu regeln, ist der Aufruf zur Anerkennung des Schöpfers des Alls und des Herrn der Geschichte wesentlich, um das Wohlergehen der Einzelpersonen und die richtige Entwicklung der Gesellschaft zu sichern.

3. Eine aufrichtige Anbetung Gottes beinhaltet notwendigerweise die Sorge um unsere Mitmenschen. Als Mitglieder der einen Menschheitsfamilie und als Gottes geliebte Kinder haben wir Pflichten einander gegenüber, die wir – als Gläubige – nicht vernachlässigen dürfen. Einer der ersten Jünger Jesu schrieb: »Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht« (1 Joh 4,20). Die Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern umfaßt eine Haltung der Achtung und des Mitgefühls, Gesten der Solidarität und Zusammenarbeit im Dienst am Gemeinwohl. Das bedeutet, daß der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden nicht außerhalb des Bereiches der Religion liegt: Er ist vielmehr eines seiner wesentlichen Elemente.

Nach christlicher Auffassung ist es nicht Aufgabe der religiösen Führer, technische Anleitungen zur Lösung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Probleme vorzuschlagen. Ihr Auftrag besteht vor allem darin, die Glaubenswahrheiten und das rechte Verhalten zu lehren und den Menschen – einschließlich der Verantwortungsträger im öffentlichen Leben – zu helfen, sich ihrer Pflichten bewußt zu werden und sie zu erfüllen. Als Führer unserer jeweiligen Religionsgemeinschaften helfen wir den Menschen, ein ganzheitliches Leben zu führen und die vertikale Dimension ihres Verhältnisses zu Gott mit der horizontalen Dimension des Dienstes für den Nächsten in Einklang zu bringen.

4. Jede unserer Religionen kennt in dieser oder anderer Form die Goldene Regel: »Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das tut ihnen auch.«

Als allgemeine Leitlinie ist die Regel zwar wertvoll, aber die wahre Nächstenliebe geht noch viel weiter: Sie basiert auf der Überzeugung, daß, wenn wir unseren Nächsten lieben, wir unsere Gottesliebe zum Ausdruck bringen, und daß, wenn wir unseren Nächsten verletzen, wir Gott beleidigen. Dies bedeutet, daß die Religion sich gegen jedwede Form von Ausgrenzung und Diskriminierung, von Haß und Rivalität, von Gewalt und Konflikten richtet. Religion ist keine Entschuldigung für Gewalt und darf auch nicht dazu werden, besonders wenn sich religiöse Identität mit kultureller und ethnischer Identität deckt. Religion und Frieden gehen Hand in Hand! Religiöse Überzeugung und Praxis können nicht von der Verteidigung des Abbilds Gottes in jedem Menschen getrennt werden.

Wir müssen aus dem Reichtum unserer jeweiligen religiösen Tradition schöpfen und das Bewußtsein verbreiten, daß die Probleme der heutigen Zeit nicht gelöst werden können, wenn wir einander nicht kennen und von einander getrennt sind. Wir alle wissen um die Mißverständnisse und Konflikte der Vergangenheit, die auch heute noch schwer auf den Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen lasten. Wir müssen alles tun, was in unseren Kräften liegt, damit sich das Bewußtsein der vergangenen Kränkungen und Sünden verwandelt in den festen Entschluß zum Aufbau einer neuen Zukunft, in der es zwischen uns nur noch respektvolle und fruchtbare Zusammenarbeit geben wird.

Die katholische Kirche möchte einen aufrichtigen und fruchtbringenden interreligiösen Dialog mit den Mitgliedern der jüdischen Glaubensgemeinschaft und den Anhängern des Islam fortführen. Ein solcher Dialog ist nicht etwa ein Versuch, den anderen unsere Meinungen aufzuzwingen. Was er von uns allen fordert, ist, daß wir an unserem eigenen Glauben festhalten, dabei aber respektvoll einander zuhören, alles Gute und Heilige in den Lehren der anderen zu erkennen suchen und gemeinsam alle Initiativen zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses und des Friedens unterstützen.

5. Die hier versammelten jüdischen, christlichen und muslimischen Kinder und Jugendlichen sind ein Zeichen der Hoffnung und ein Ansporn für uns. Jede neue Generation ist ein Geschenk Gottes an die Welt. Wenn wir alles Edle und Gute unserer Traditionen an sie weitergeben, werden sie es in einer intensiveren Brüderlichkeit und Kooperation zur Blüte bringen.

Wenn es den verschiedenen Religionsgemeinschaften in der Heiligen Stadt und im Heiligen Land gelingt, in Freundschaft und Eintracht zusammen zu leben und zu arbeiten, wird dies ein enormer Gewinn nicht nur für sie selbst, sondern für die ganze Sache des Friedens in dieser Region sein. Jerusalem wird dann wirklich die Stadt des Friedens für alle Völker sein. Dann werden wir alle die Worte des Propheten wiederholen: »Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen« (Jes 2,3).

Wenn wir uns diesem Auftrag erneut verpflichten, und wenn wir das in der Heiligen Stadt Jerusalem tun, dann bitten wir Gott damit, gütig auf unsere Bemühungen zu schauen und sie zu einem positiven Ergebnis zu bringen. Der Allmächtige schenke unseren gemeinsamen Anstrengungen seinen Segen in Fülle!

 


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