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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE MITGLIEDER DER PÄPSTLICHEN AKADEMIE FÜR DAS LEBEN 

Konsistoriensaal
Montag, 20. Februar 2023

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Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern, Herr Kardinal, liebe Bischöfe!

Ich heiße euch herzlich willkommen! Mein Dank geht an Erzbischof Paglia für die Worte, die er an mich gerichtet hat, und an euch alle für euer Engagement für die Förderung des menschlichen Lebens. Danke! In diesen Tagen werdet ihr über die Beziehung zwischen Mensch, neuen Technologien und Gemeinwohl nachdenken: Es handelt sich um eine heikle Frontlinie, an der sich Fort- schritt, Ethik und Gesellschaft begegnen und an der der Glaube in seiner fortwährenden Bedeutung einen wertvollen Beitrag leisten kann. In diesem Sinne hört die Kirche nie auf, den Fortschritt von Wissenschaft und Technik im Dienste der Würde der Person und einer »umfassenden und integrierenden« menschlichen Entwicklung zu fördern.(1) In dem Brief, den ich anlässlich des 25. Jahres der Gründung der Akademie an euch gerichtet habe, habe ich euch eingeladen, euch mit eben diesem Thema zu befassen(2); nun möchte ich innehalten, um mit euch über drei Herausforderungen nachzudenken, die ich in diesem Zusammenhang für wichtig halte: die sich verändernden menschlichen Lebensbedingungen in der technologischen Welt; die Auswirkungen der neuen Technologien auf die Definition von »Mensch« und »Beziehung« selbst, unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Schwächsten; der Begriff »Erkenntnis« und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Die erste Herausforderung: die Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen in der Welt der Technologie. Wir wissen, dass es dem Menschen eigen ist, in der Welt auf technologische Weise zu handeln, um die Umwelt zu verändern und die Lebensbedingungen zu verbessern. Benedikt XVI. erinnerte daran, indem er erklärte: die Technik »entspricht der eigentlichen Berufung der menschlichen Arbeit: In der Technik, die als Werk seines Geistes gesehen wird, erkennt der Mensch sich selbst und verwirklicht das eigene Menschsein«.(3) Sie hilft uns daher, den Wert und das Potenzial der menschlichen Intelligenz besser zu verstehen, und spricht gleichzeitig von der großen Verantwortung, die wir gegenüber der Schöpfung haben.

In der Vergangenheit war die Verbindung zwischen Kulturen, sozialen Aktivitäten und der Umwelt aufgrund weniger dichter Interaktionen und langsamerer Auswirkungen weniger stark ausgeprägt. Heute hingegen macht die rasante Entwicklung der technischen Mittel die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Menschen und dem »gemeinsamen Haus« intensiver und offensichtlicher, wie Paul VI. bereits in Populorum progressio(4) erkannt hat. Die Kraft und die Beschleunigung der Eingriffe sind sogar so groß, dass sie zu erheblichen Veränderungen führen – denn es handelt sich um eine geometrische, nicht um eine mathematische Beschleunigung –, sowohl in der Umwelt als auch in den menschlichen Lebensbedingungen, mit Auswirkungen und Entwicklungen, die nicht immer klar und vorhersehbar sind. Das zeigen die verschiedenen Krisen, von der Pandemie bis zur Energiekrise, von der Klimakrise bis zur Migrationskrise, deren Folgen sich gegenseitig beeinflussen und verstärken. Eine gesunde technologische Entwicklung muss diese komplexen Verflechtungen berücksichtigen.

Die zweite Herausforderung: die Auswirkungen der neuen Technologien auf die Definition von »Mensch« und »Beziehung«, insbesondere im Hinblick auf die Situation der Benachteiligten. Es ist offenkundig, dass die technologische Form der menschlichen Erfahrung jeden Tag vorherrschender wird: Bei der Unterscheidung zwischen »natürlich« und »künstlich«, »biologisch« und »technologisch« werden die Kriterien, anhand derer man das Eigene des Menschlichen und des Technischen unterscheiden kann, immer komplizierter. Daher ist ein ernsthaftes Nachdenken über den eigenen Wert des Menschen wichtig. Insbesondere muss die Bedeutung des Konzepts des persönlichen Bewusstseins als eine relationale Erfahrung, die weder von der Körperlichkeit noch von der Kultur getrennt werden kann, entschieden bekräftigt werden. Mit anderen Worten: Im Netz der Beziehungen, sowohl der subjektiven als auch der gemeinschaftlichen, kann die Technologie den menschlichen Kontakt nicht ersetzen, das Virtuelle nicht das Reale und die Sozialen Medien nicht das soziale Umfeld. Und wir stehen in der Versuchung, das Virtuelle über das Reale siegen zu lassen: Das ist eine unschöne Versuchung.

Auch im Rahmen der wissenschaftlichen Forschungsprozesse zeigt die Beziehung zwischen Person und Gemeinschaft immer komplexere ethische Implikationen. So zum Beispiel im Bereich des Gesundheitswesens, wo die Qualität der Information und der Betreuung des Einzelnen weitgehend von der Sammlung und Analyse der verfügbaren Daten abhängt. Hier stellt sich das Problem, die Vertraulichkeit der Daten des Einzelnen mit der Weitergabe von Informationen über ihn im Interesse aller zu verbinden. Es wäre in der Tat egoistisch, zu verlangen, mit den besten Ressourcen und Fähigkeiten, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen, behandelt zu werden, ohne dazu beizutragen, diese zu erweitern. Ganz allgemein denke ich an die Dringlichkeit, dass die Verteilung der Ressourcen und der Zugang zur Behandlung allen zugutekommen muss, damit die Ungleichheiten abgebaut werden und die notwendige Unterstützung gewährleistet ist, insbesondere für die Schwächsten, wie Behinderte, Kranke und Arme.

Deshalb ist es notwendig, über die Geschwindigkeit der Veränderungen, die Wechselwirkungen zwischen den Veränderungen und die Möglichkeit, ein Gesamtgleichgewicht zu gewährleisten, zu wachen. Dieses Gleichgewicht ist im Übrigen nicht unbedingt in allen Kulturen gleich, wie die technologische Perspektive anzunehmen scheint, wenn sie sich als universelle und homogene Sprache und Kultur aufdrängt – das ist ein Irrtum –; dagegen muss das Engagement darauf abzielen, dass »jedes Land in dem ihm eigenen Stil wachse und seine Fähigkeiten zu einer Erneuerung nach den eigenen kulturellen Werten entwickle«.(5)

Die dritte Herausforderung: die Definition des Erkenntnisbegriffs und seine Folgen. Alle bisher betrachteten Elemente veranlassen uns, unsere Art des Erkennens zu hinterfragen, da wir uns bewusst sind, dass bereits die Art des Erkennens, die wir ausüben, in sich selbst moralische Auswirkungen hat. So ist es beispielsweise reduktiv, die Erklärung von Phänomenen nur in den Eigenschaften der einzelnen Elemente zu suchen, aus denen sie bestehen. Es sind differenziertere Modelle erforderlich, die das Beziehungsgeflecht berücksichtigen, mit dem die einzelnen Ereignisse verwoben sind. So ist es beispielsweise paradox, im Zusammenhang mit Technologien zur Verbesserung der biologischen Funktionen eines Subjekts von einem »augmentierten« Menschen zu sprechen, wenn man dabei vergisst, dass der menschliche Körper sich auf das ganzheitliche Gut der Person bezieht und daher nicht allein mit dem biologischen Organismus identifiziert werden kann. Ein falscher Ansatz in diesem Bereich führt in Wirklichkeit nicht zu einer »Verbesserung«, sondern zu einer »Komprimierung« des Menschen.

In Evangelii gaudium und insbesondere in Laudato si’ habe ich die Bedeutung einer Erkenntnis auf menschliche, organische Weise hervorgehoben, indem ich zum Beispiel betonte, dass »das Ganze mehr [ist] als der Teil« und dass »in der Welt alles miteinander verbunden ist«.(6) Ich glaube, dass solche Einsichten ein neues Denken auch im theologischen Bereich fördern können(7); in der Tat ist es gut für die Theologie, über vorwiegend apologetische Ansätze hinauszugehen, zur Definition eines neuen Humanismus beizutragen und das gegenseitige Zuhören und Verstehen zwischen Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft zu fördern. Das Fehlen eines konstruktiven Dialogs zwischen diesen Realitäten vermindert nämlich das gegenseitige Vertrauen, das jedem menschlichen Zusammenleben und jeder Form von »sozialer Freundschaft«(8) zugrunde liegt. Ich möchte auch auf die Bedeutung des Beitrags hinweisen, den der Dialog zwischen den großen religiösen Traditionen zu diesem Ziel leistet. Sie verfügen über eine jahrhundertalte Weisheit, die bei diesen Prozessen helfen können. Ihr habt bewiesen, dass ihr diesen Wert zu schätzen wisst, indem ihr beispielsweise auch in jüngster Zeit interreligiöse Begegnungen zu den Themen »Lebensende«(9) und künstliche Intelligenz(10) gefördert habt.

Liebe Brüder und Schwestern, angesichts solch komplexer aktueller Herausforderun- gen ist die Aufgabe, die vor euch liegt, enorm. Es geht darum, von den Erfahrungen auszugehen, die wir alle als Menschen teilen, und sie zu studieren, indem wir die Perspektiven der Komplexität, des transdisziplinären Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Subjekten einnehmen. Aber wir dürfen uns nicht entmutigen lassen: Wir wissen, dass der Herr uns nicht im Stich lässt und dass das, was wir tun, auf dem Vertrauen beruht, das wir in ihn setzen, den »Freund des Lebens« (Weish 11,26). Ihr habt euch in den letzten Jahren dafür eingesetzt, dass das wissenschaftliche und technologische Wachstum immer mehr mit einer parallelen »Entwicklung des Menschen in Verantwortlichkeit, Werten und Gewissen«11 in Einklang gebracht werden kann: Ich lade euch ein, auf diesem Weg weiterzugehen, ich segne euch und bitte euch, für mich zu beten. Danke.


Fußnoten

1 Enzyklika Laudato si’, Nr. 141.

2 Vgl. Humana communitas, 6. Januar 2019, Nr. 12-13.

3 Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, Nr. 69.

4 Vgl. Nr. 65.

5 Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 51.

6 Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, Nr. 234-237; Enzyklika Laudato si’, Nr. 16.

7 Vgl. Apostolische Konstitution Veritatis gaudium, Nr. 4-5.

8 Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 168.

9 Joint declaration of the Abrahamic monotheistic religions on matters concerning the end of life, 28. Oktober 2019.

10 Vgl. Unterzeichnung des Rome Call for AI Ethics, 10. Januar 2023.

11 Enzyklika Laudato si’, Nr. 105.

 

 

 



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