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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH KANADA
(24. - 30. JULI 2022)

HEILIGE MESSE

PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS

Fest der heiligen Joachim und Anna
"Commonwealth Stadium" in Edmonton
Dienstag, 26. Juli 2022

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Heute ist das Fest der Großeltern Jesu; der Herr hat gewollt, dass wir uns zu diesem Anlass, der euch und mir sehr am Herzen liegt, zahlreich begegnen. Im Haus von Joachim und Anna hat der kleine Jesus seine älteren Verwandten kennengelernt und die Nähe, Zärtlichkeit und Weisheit der Großeltern erfahren. Denken auch wir an unsere Großeltern und betrachten wir zwei wichtige Aspekte.

Erstens: Wir sind Kinder einer Geschichte, die es zu hüten gilt. Wir sind keine isolierten Individuen, wir sind keine Inseln, niemand kommt losgelöst von den anderen auf die Welt. Unsere Wurzeln, die Liebe, die uns erwartet und die wir erhalten haben, als wir auf die Welt gekommen sind, das familiäre Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind, sind Teil einer einzigartigen Geschichte, die uns vorausgegangen und uns hervorgebracht hat. Wir haben sie uns nicht ausgesucht, sondern als Geschenk empfangen; und es ist ein Geschenk, das wir gerufen sind zu hüten. Denn, so wie uns das Buch Jesus Sirach erinnert hat: wir sind »die Nachkommen« derer, die uns vorausgegangen sind, wir sind ihr »gutes Erbe« (Sir 44,11). Ein Erbe, das abgesehen von der Tapferkeit oder der Autorität von einigen, der Intelligenz oder der Kreativität in Gesang oder Dichtung von anderen, sein Zentrum in der Gerechtigkeit hat, in der Treue zu Gott und zu seinem Plan. Und genau das haben sie an uns weitergegeben. Um wirklich zu begreifen, wer wir sind und wie wertvoll wir sind, müssen wir diejenigen in uns aufnehmen, von denen wir abstammen, die nicht nur an sich selbst gedacht haben, sondern uns den Schatz des Lebens weitergegeben haben. Dass wir hier sind, verdanken wir unseren Eltern, aber auch unseren Großeltern, die uns spüren ließen, dass wir in der Welt willkommen sind. Oft waren sie es, die uns vorbehaltlos geliebt haben, ohne etwas von uns zu erwarten: Sie haben uns an die Hand genommen, wenn wir Angst hatten, sie haben uns in der Dunkelheit der Nacht beruhigt, sie haben uns ermutigt, wenn wir uns im Tageslicht den Entscheidungen des Lebens stellen mussten. Dank unserer Großeltern haben wir von der Geschichte, die uns vorausging, eine liebevolle Geste empfangen: Wir haben gelernt, dass das Gute, die Zärtlichkeit und die Weisheit feste Wurzeln der Menschheit sind. Viele von uns haben im Haus der Großeltern den Duft des Evangeliums eingeatmet, die Kraft eines Glaubens, der nach Heimat schmeckt. Dank ihnen haben wir einen familiären, einen heimischen Glauben entdeckt; ja, so ist das, denn der Glaube wird im Wesentlichen auf diese Weise vermittelt, er wird „im Dialekt“ vermittelt, er wird durch Zuneigung und Ermutigung, durch Fürsorge und Nähe vermittelt.

Dies ist unsere Geschichte, die wir hüten müssen, die Geschichte, deren Erben wir sind: Wir sind Kinder, weil wir Enkelkinder sind. Die Großeltern haben uns das ursprüngliche Siegel ihrer Lebensweise eingeprägt, indem sie uns Würde und Vertrauen in uns selbst und in andere gegeben haben. Sie haben uns etwas weitergegeben, was in uns niemals ausgelöscht werden kann, und gleichzeitig haben sie uns ermöglicht, einzigartige, eigenständige und freie Personen zu sein. So haben wir gerade von unseren Großeltern gelernt, dass Liebe niemals ein Zwang ist, dass sie den anderen niemals seiner inneren Freiheit beraubt. Auf diese Weise haben Joachim und Anna Maria geliebt und haben Jesus geliebt; und so hat Maria Jesus geliebt, mit einer Liebe, die ihn nie erstickte oder zurückhielt, sondern ihn begleitete, um die Sendung zu erfüllen, für die er in die Welt gekommen war. Lernen wir dies als Einzelne und als Kirche: Unterdrücken wir niemals das Gewissen der anderen, fesseln wir niemals die Freiheit unseres Gegenübers, und lassen wir es vor allem niemals an Liebe und Respekt für die Menschen fehlen, die uns vorausgegangen und uns anvertraut sind: Denn sie sind kostbare Schätze, die eine Geschichte hüten, die größer ist als sie selbst.

Die Geschichte, die uns hervorgebracht hat, zu bewahren, bedeutet - so sagt uns das Buch Jesus Sirach - den „Ruhm“ unserer Vorfahren nicht auszulöschen: das Gedenken an sie nicht zu verlieren, die Geschichte nicht zu vergessen, von der her unser Leben entstanden ist, uns immer an die Hände zu erinnern, die uns gestreichelt und die Arme, die uns gehalten haben, denn aus dieser Quelle finden wir Trost in Momenten der Entmutigung, Licht in der Unterscheidung, Mut, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Aber die Geschichte, die uns hervorgebracht hat, zu bewahren, bedeutet auch, immer wieder in die Schule zurückzukehren, in der wir die Liebe erlernt und erlebt haben. Es bedeutet, dass wir uns bei den Entscheidungen, die wir heute zu treffen haben, fragen, was die weisesten älteren Menschen, die wir kennengelernt haben, an unserer Stelle tun würden, was unsere Großeltern und Urgroßeltern uns raten oder raten würden zu tun.

Liebe Brüder und Schwestern, fragen wir uns also: Sind wir Kinder und Enkelkinder, die den Reichtum, den wir erhalten haben, zu schätzen wissen? Erinnern wir uns an die guten Lehren, die wir vermittelt bekommen haben? Sprechen wir mit unseren älteren Menschen, nehmen wir uns die Zeit, ihnen zuzuhören? Und gelingt es uns, in unseren immer besser ausgestatteten, modernen und funktionalen Häusern einen würdigen Platz für ihr Andenken zu schaffen, einen besonderen Ort, ein kleines Familienheiligtum, das uns durch Bilder und liebgewonnene Gegenstände auch die Möglichkeit gibt, unsere Gedanken und Gebete für die zu erheben, die uns vorausgegangen sind? Haben wir die Bibel und den Rosenkranz unserer Vorfahren aufbewahrt? Für sie beten und mit ihnen verbunden sein, sich Zeit nehmen, um zu gedenken, das Erbe bewahren: Im Nebel des Vergessens, der unsere hektische Zeit überfällt, Brüder und Schwestern, ist es wichtig, für die Wurzeln Sorge zu tragen. So wächst der Baum, so wird die Zukunft erbaut.

Damit kommen wir zu einem zweiten Aspekt: Wir sind nicht nur Kinder einer Geschichte, die es zu hüten gilt, sondern auch Handwerker einer Geschichte, die es aufzubauen gilt. Jeder von uns kann erkennen, dass er so ist, wie er ist, mit all seinen hellen und dunklen Seiten, ausgehend von der Liebe, die er erhalten oder nicht erhalten hat. Das Geheimnis des menschlichen Lebens besteht darin, dass wir alle Kinder von jemandem sind, von jemandem gezeugt und geformt; doch wenn wir erwachsen werden, sind auch wir dazu berufen, fruchtbar zu sein, Väter, Mütter und Großeltern von jemand anderem zu werden. Wenn wir also die Person betrachten, die wir heute sind, was wollen wir dann mit uns selbst anfangen? Die Großeltern, von denen wir abstammen, die älteren Menschen, die geträumt, gehofft und sich für uns aufgeopfert haben, stellen uns eine grundlegende Frage: Welche Art von Gesellschaft wollen wir aufbauen? Wir haben so viel von denen erhalten, die uns vorangegangen sind: Was wollen wir unseren Nachkommen als Erbe hinterlassen? Einen lebendigen oder einen oberflächlichen, verwässerten Glauben, eine Gesellschaft, die auf individuellem Profit oder auf Geschwisterlichkeit basiert, eine Welt in Frieden oder im Krieg, eine verwüstete Schöpfung oder ein einladendes Zuhause?

Und vergessen wir nicht, dass diese lebensspendende Bewegung von den Wurzeln zu den Zweigen, zu den Blättern, zu den Blüten und zu den Früchten des Baumes geht. Wahre Tradition drückt sich in dieser vertikalen Dimension aus: von unten nach oben. Hüten wir uns davor, in die Karikatur der Tradition zu verfallen, die sich nicht in einer vertikalen Linie - von den Wurzeln zu den Früchten - bewegt, sondern in einer horizontalen Linie - vorwärts/rückwärts -, die uns zur Kultur der „Rückwärtsgewandtheit“ als egoistischem Zufluchtsort führt; und die nichts anderes tut, als die Gegenwart einzukapseln und sie mit der Logik des „das wurde schon immer so gemacht“ aufzubewahren.

Im Evangelium, das wir gehört haben, sagt Jesus den Jüngern, dass sie selig sind, weil sie sehen und hören können, was so viele Propheten und Gerechte nur ersehnen konnten (vgl. Mt 13,16-17). Denn viele hatten an die Verheißung Gottes vom Kommen des Messias geglaubt, hatten ihm den Weg bereitet und seine Ankunft angekündigt. Nun aber, da der Messias gekommen ist, sind diejenigen, die ihn sehen und hören können, dazu aufgerufen, ihn aufzunehmen und ihn zu verkünden.

Brüder und Schwestern, das gilt auch für uns. Diejenigen, die uns vorangegangen sind, haben uns eine Leidenschaft, eine Kraft und eine Sehnsucht weitergegeben, ein Feuer, das wir neu entfachen müssen; es geht nicht darum, Asche zu hüten, sondern das Feuer, das sie entzündet haben, neu zu entfachen. Unsere Großeltern und ältere Menschen wünschten sich eine gerechtere, geschwisterlichere und solidarischere Welt und kämpften dafür, dass wir eine Zukunft haben. Jetzt liegt es an uns, sie nicht zu enttäuschen. Es liegt an uns, diese Tradition, die wir erhalten haben, weiterzuführen, denn die Tradition ist der lebendige Glaube unserer Toten. Bitte, verwandeln wir sie nicht in Traditionalismus, welcher der tote Glaube der Lebenden ist, wie ein Denker sagte. Gestützt auf sie, unsere Väter und Mütter, die unsere Wurzeln sind, liegt es an uns, Früchte zu tragen. Wir sind die Zweige, die aufblühen und in der Geschichte neue Samen säen müssen. Stellen wir uns also eine konkrete Frage: Was tue ich vor der Heilsgeschichte, zu der ich gehöre, und angesichts derer, die mir vorausgegangen sind und die mich lieben? Ich habe eine einzigartige und unersetzliche Rolle in der Geschichte: Welche Spuren hinterlasse ich, was tue ich, was hinterlasse ich denen, die nach mir kommen, was gebe ich von mir? So oft messen wir das Leben an dem Geld, das wir verdienen, an der Karriere, die wir machen, an dem Erfolg und der Anerkennung, die wir von anderen erhalten. Aber das sind keine fruchtbringenden Kriterien. Die Frage ist: Bringe ich Frucht? Erzeuge ich Leben? Bringe ich eine neue und erneuerte Liebe in die Geschichte ein? Verkünde ich das Evangelium dort, wo ich lebe, diene ich jemandem ohne Gegenleistung, so wie es meine Vorfahren mit mir getan haben? Was tue ich für meine Kirche, meine Stadt und meine Gesellschaft? Brüder und Schwestern, es ist leicht, Kritik zu üben, aber der Herr möchte nicht, dass wir nur Kritiker des Systems sind, er möchte nicht, dass wir verschlossen sind, dass wir rückwärtsgewandt sind, einer von denen, die zurückweichen, wie der Schreiber des Hebräerbriefes sagt (vgl. 10,39), sondern er will, dass wir Handwerker einer neuen Geschichte, Hoffnungsträger, Erbauer der Zukunft, Friedensstifter sind.

Joachim und Anna mögen für uns eintreten: Mögen sie uns helfen, die Geschichte, die uns hervorgebracht hat, zu hüten und eine fruchtbringende Geschichte aufzubauen. Mögen sie uns an die geistliche Bedeutung erinnern, unsere Großeltern und älteren Menschen zu ehren und ihre Anwesenheit zu schätzen, um eine bessere Zukunft aufzubauen. Eine Zukunft, in der ältere Menschen nicht beiseitegeschoben werden, weil sie funktional gesehen „nicht mehr gebraucht werden“; eine Zukunft, in der der Wert eines Menschen nicht nur danach beurteilt wird, wie viel er produziert; eine Zukunft, in der diejenigen, die im fortgeschrittenen Alter mehr Zeit, Gehör und Aufmerksamkeit brauchen, nicht gleichgültig sind; eine Zukunft, in der sich die Geschichte der Gewalt und Ausgrenzung, die unsere indigenen Brüder und Schwestern erlitten haben, für niemanden wiederholt. Es ist eine Zukunft, die möglich ist, wenn wir mit Gottes Hilfe die Verbindung zu denen, die uns vorausgegangen sind, nicht zerreißen und den Dialog mit denen, die nach uns kommen werden, pflegen: Jung und Alt, Großeltern und Enkel, gemeinsam. Schreiten wir gemeinsam voran, träumen wir gemeinsam und vergessen wir nicht den Rat des Paulus an seinen Schüler Timotheus: „Erinnere dich an deine Mutter und deine Großmutter“ (vgl. 2 Tim 1,5).



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