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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER EINER INTERNATIONALEN KONFERENZ
ZUR ANTHROPOLOGIE DER BERUFUNFEN

Synodenaula
Freitag, 1. März 2024

[Multimedia]


Zunächst richtete der Heilige Vater aus dem Stegreif folgende Grußworte an die Kongressteilnehmer:

Guten Tag! Ich bitte darum, [die Ansprache] zu verlesen, so überanstrenge ich mich nicht; ich bin noch immer erkältet, und es strengt mich an, wenn ich länger vorlese. Aber ich möchte etwas hervorheben: Es ist sehr wichtig, dass es diese Begegnung gibt, diese Begegnung zwischen Männern und Frauen, denn die schlimmste Gefahr ist heute die Genderideologie, die die Unterschiede auslöscht. Ich habe darum gebeten, Studien zu dieser schlimmen Ideologie unserer Zeit, die die Unterschiede auslöscht und alles gleichmacht, durchzuführen; den Unterschied auszulöschen bedeutet, die Menschheit auszulöschen. Vielmehr befinden sich Mann und Frau in einer fruchtbaren »Spannung«. Ich erinnere mich, einen Roman vom Anfang des 20. Jahrhunderts gelesen zu haben, der vom Sohn des Erzbischofs von Canterbury geschrieben wurde: The Lord of the World. Der Roman enthält eine Zukunftsvision und ist prophetisch, weil er diese Tendenz aufzeigt, alle Unterschiede auszulöschen. Es ist interessant, ihn zu lesen, wenn ihr Zeit habt, lest ihn, denn dort gibt sind diese heutigen Probleme vorhanden; dieser Mann war ein Prophet.

Anschließend verlas ein Mitarbeiter des Staatssekretariats, Msgr. Filippo Ciampanelli, die vorbereitete Ansprache des Papstes:

Brüder und Schwestern!

Ich freue mich, an diesem Kongress teilzunehmen, der vom »Zentrum für die Erforschung und die Anthropologie der Berufungen« veranstaltet wurde und auf dem Fachleute aus verschiedenen Teilen der Welt, jeder von der eigenen Zuständigkeit her, sich mit dem Thema »Mann – Frau: Ebenbild Gottes. Für eine Anthropologie der Berufungen« auseinandersetzen. Ich begrüße alle Teilnehmer, und ich danke Kardinal Ouellet für seine Worte: Noch sind wir nicht heilig, aber wir hoffen, stets auf dem Weg zu bleiben, um es zu werden, das ist die erste Berufung, die wir empfangen haben! Und vor allem danke ich ihm dafür, dass er vor einigen Jahren zusammen mit anderen maßgeblichen Personen und im Streben nach dem Bündnis zwischen den Wissenschaften dieses Zentrum ins Leben gerufen hat, um eine internationale akademische Forschung einzuleiten, die darauf abzielt, die Bedeutung und Wichtigkeit der Berufungen in der Kirche und in der Gesellschaft immer besser zu verstehen.

Ziel des gegenwärtigen Kongresses ist es vor allem, über die anthropologische Dimension einer jeden Berufung nachzudenken und sie wertzuschätzen. Das verweist uns auf eine elementare und grundlegende Wahrheit, die wir heute in ihrer ganzen Schönheit neu entdecken müssen: Das Leben des Menschen ist Berufung. Vergessen wir das nicht: Die anthropologische Dimension, die jedem Ruf im Bereich der Gemeinschaft zugrunde liegt, hat mit einem wesentlichen Merkmal des Menschen als solchem zu tun: also damit, dass der Mensch selbst Berufung ist. Jeder von uns – sowohl in den großen Entscheidungen, die einen Lebensstand betreffen, als auch in den zahlreichen Gelegenheiten und Situationen, in denen diese Form und Gestalt annehmen – entdeckt sich und drückt sich aus als Gerufener, als Gerufene, als Mensch, der sich im Hören und in der Antwort verwirklicht, indem er das eigene Sein und die eigenen Gaben mit den anderen teilt, für das Gemeinwohl.

Diese Entdeckung lässt uns aus der Isolation eines selbstbezogenen Ichs herauskommen und uns selbst als eine Identität in Beziehung betrachten: Ich existiere und lebe in Beziehung zu dem, der mich hervorgebracht hat, zur Wirklichkeit, die mich übersteigt, zu den anderen und zur Welt, die mich umgibt und der gegenüber ich aufgerufen bin, eine besondere und persönliche Mission mit Freude und Verantwortung anzunehmen.

Diese anthropologische Wahrheit ist grundlegend, weil sie in ganzer Fülle dem Wunsch nach menschlicher Verwirklichung und Glück entspricht, der in unserem Herzen wohnt. Im heutigen kulturellen Kontext neigt man manchmal dazu, diese Wirklichkeit zu vergessen oder zu verdunkeln, mit der Gefahr, den Menschen nur auf seine materiellen Bedürfnisse oder auf seine Grund-erfordernisse zu reduzieren, so als wäre er ein Gegenstand ohne Bewusstsein und ohne Willen, einfach vom Leben mitgeschleppt als Teil eines mechanischen Getriebes. Der Mann und die Frau sind jedoch vielmehr von Gott erschaffen und Ebenbild des Schöpfers; sie tragen also in sich eine Sehnsucht nach Ewigkeit und Glückseligkeit, die Gott selbst in ihr Herz gesät hat und die sie durch eine besondere Berufung verwirklichen sollen. Daher wohnt in uns eine gesunde innere Spannung, die wir nie ersticken dürfen: Wir sind berufen zur Glückseligkeit, zur Fülle des Lebens, zu etwas Großem, zu dem Gott uns bestimmt hat. Das Leben eines jeden von uns, niemand ausgeschlossen, ist kein Betriebsunfall; dass wir auf der Welt sind, ist keine reine Frucht des Zufalls, sondern wir sind Teil eines Liebesplans und eingeladen, aus uns selbst herauszugehen und ihn zu verwirklichen, für uns und für die anderen.

Aus diesem Grund – wenn es wahr ist, dass jeder von uns eine Mission hat, also aufgerufen ist, seinen eigenen Beitrag zu leisten, um die Welt zu verbessern und die Gesellschaft zu prägen – erinnere ich immer gern daran, dass es sich nicht um eine äußerliche Aufgabe handelt, die unserem Leben anvertraut ist, sondern um eine Dimension, die mit unserem Wesen zu tun hat, mit der Struktur unseres Daseins als Mann und als Frau als Ebenbild Gottes, ihm ähnlich. Nicht nur ist uns eine Mission anvertraut, sondern jeder und jede von uns ist eine Mission: »Ich bin immer eine Mission; du bist immer eine Mission; jede Getaufte und jeder Getaufte ist eine Mission. Wer liebt, setzt sich in Bewegung, es treibt ihn von sich selbst hinaus, er wird angezogen und zieht an, er schenkt sich dem anderen und knüpft Beziehungen, die Leben spenden. Niemand ist unnütz und unbedeutend für die Liebe Gottes« (Botschaft zum Weltmissionssonntag 2019).

Eine herausragende intellektuelle und geistliche Gestalt, Kardinal Newman, hat erleuchtete Worte dazu gesagt. Ich zitiere einige davon: »Ich bin erschaffen, um zu tun und jemand zu sein, für das kein anderer erschaffen ist. Ich nehme meinen Platz ein in Gottes Rat, in Gottes Welt: einen Platz, den kein anderer einnimmt. Ganz gleich, ob ich reich oder arm, von den Menschen verachtet oder angesehen bin: Gott kennt mich und ruft mich beim Namen. Er hat mir ein Werk anvertraut, das er keinem anderen anvertraut hat. Ich habe meine Mission. Irgendwie bin ich für seinen Willen notwendig.« Und er sagt weiter: »Gott hat mich nicht umsonst erschaffen. Ich soll Gutes tun und sein Werk vollbringen. Ich soll auf meinem Posten ein Engel des Friedens, ein Prediger der Wahrheit sein, ohne es zu wollen, wenn ich nur seine Gebote halte und ihm in meiner Berufung diene« (J.H. Newman, Meditazioni e preghiere, Mailand 2002, 38-39).

Brüder und Schwestern, eure Untersuchungen, eure Studien und insbesondere diese Gelegenheiten zum Austausch sind sehr notwendig und wichtig, damit sich das Bewusstsein um die Berufung verbreitet, zu der jeder Mensch von Gott gerufen ist, in verschiedenen Lebensständen und dank seiner zahlreichen Charismen. Sie sind ebenso nützlich, um die heutigen Herausforderungen, die derzeitige anthropologische Krise und die notwendige Förderung der menschlichen und christlichen Berufungen zu hinterfragen. Und es ist wichtig, dass sich auch dank eures Beitrags ein immer wirkkräftigerer Kreislauf zwischen den verschiedenen Berufungen entwickelt, damit die Werke, die aus dem Laienstand entspringen im Dienst der Gesellschaft und der Kirche zusammen mit dem Geschenk des Weiheamtes und des geweihten Lebens dazu beitragen können, Hoffnung zu erzeugen in einer Welt, auf der schwere Todeserfahrungen lasten.

Diese Hoffnung zu erzeugen, sich in den Dienst des Reiches Gottes für den Aufbau einer offenen und geschwisterlichen Welt zu stellen, ist eine Aufgabe, die jeder Frau und jedem Mann unserer Zeit anvertraut ist. Danke für den Beitrag, den ihr in diesem Sinne leistet. Danke für eure Arbeit in diesen Tagen. Ich vertraue sie dem Herrn im Gebet an, durch die Fürsprache Marias, Ikone der Berufung und Mutter jeder Berufung. Und bitte vergesst auch ihr nicht, für mich zu beten.

Zum Abschluss der Ansprache fügte der Heilige Vater wieder selbst hinzu:

Ich wünsche euch frohes Schaffen! Und habt keine Angst in diesen so reichen Augenblicken im Leben der Kirche. Der Heilige Geist bittet uns um eine wichtige Sache: Treue. Aber die Treue ist auf dem Weg, und die Treue bringt uns oft dazu, etwas zu riskieren. Die »Treue wie aus dem Museum« ist keine Treue. Geht voran mit dem Mut, Entscheidungen zu finden und etwas zu riskieren, indem ihr den Willen Gottes sucht. Ich wünsche euch das Beste. Nur Mut und vorwärts, ohne den Sinn für Humor zu verlieren!



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